Bettina Wodianka: Radio als Hör-Spiel-Raum. Medienreflexion – Störung – Künstlerische Intervention.

Bielefeld: transcript 2018. ISBN: 978-3-8376-4046-5. 432 S., Preis: € 44,99.

Autor/innen

  • Christine Ehardt

Abstract

Wolf Vostells Aktionshörspiel Rebellion der Verneinung. Eine akustische dé-coll/age zur Schärfung des Bewußtseins über Kultur, Kunst und Revolution erregte Ende der 1960er-Jahre so viel Aufmerksamkeit, dass die Polizei zur Kalmierung des besorgten Radiopublikums (das einen realen Angriff revolutionärer Kräfte auf den Hessischen Rundfunk vermutete) ausrücken musste. Eine Resonanz, mit der Sendungsverantwortliche heute wohl kaum mehr rechnen dürfen.

Hören soll stören! Bettina Wodianka lotet in ihrem Dissertationsprojekt "Radio als Hör-Spiel-Raum", das nun als Buch im transcript Verlag vorliegt, radiophone Grenzgänge aus, die sich als produktive Störimpulse im normierenden Radiofluss mit seinem Zwang zur 'Selbstähnlichkeit'[1] präsentieren. Die zentrale Position ihrer formästhetischen Untersuchung markanter Radiokunstprojekte, vor allem der 1960er- und 1970er-Jahre, nimmt dabei das Prinzip der Störung in der Kommunikation zwischen Sender und Empfänger ein, das die Autorin entlang einer Diskursgeschichte radiophoner Kunst auslotet und als wichtiges Mittel für innovative Hörspielarbeit herausarbeitet. Solche Störungen "unterminieren angestammte Rezeptionsweisen, was sich irritierend und störend auf den Rezeptionsakt" (S. 375) auswirkt. Ihre lesenswerte Auseinandersetzung mit intermedialen Radiophänomenen unterteilt Wodianka in fünf Kapitel, die zugleich eine Entwicklungsgeschichte des Hörspiels im Rundfunk nachzeichnen und in Analysen der sprach- und gesellschaftskritischen Arbeiten von Wolf Vostell, Mauricio Kagel, Gerhard Rühm und Rolf Dieter Brinkmann münden. Verbindendes Element dieser Auswahl an Hörspielarbeiten findet sie im Gestaltungsverfahren der Collage und einer selbst- und medienreflexiven Zugangsweise zum Diskursraum Radio.

In ihrem umfassenden Einleitungsteil wird der Begriff der 'Intermedialität'  (verstanden als wechselseitiges Zusammenspiel von Medium, Wahrnehmung und Ästhetik) von unterschiedlichen Perspektiven angereichert, durchleuchtet und anhand der Debatten zum 'Neuen Hörspiel' diskutiert. Denn erst mit den Konzepten und Verfahren des Neuen Hörspiels, das in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Rundfunkanstalten Einzug hielt und innerhalb und außerhalb der Redaktionen zu einem vieldiskutierten Streitthema zwischen den Generationen wurde, werden intermediale Verfahren im Rundfunk (wieder) aufgegriffen und den traditionellen Hörspielkonzepten, die auf Illusion und Innerlichkeit im Hörerleben abzielten, eine grenzüberschreitende und medienreflexive Kunstauffassung gegenübergestellt.  Einer Auseinandersetzung mit dem heute in vielen Forschungsdisziplinen verhandelten Begriff der Störung wird in dieser Forschungsarbeit allerdings nur rudimentär anhand weniger Sekundärliteratur nachgegangen. Zentrale Positionen dieses fruchtbaren Deutungsschemas aus der Medien- und Kommunikationstheorie bleiben unerwähnt.

Frühe intermediale Positionen findet Wodianka in den Werken Walter Ruttmanns und Hans Fleschs sowie den Arbeiten Pierre Schaeffers und der 'musique concrète'. Ruttmanns Weekend, das 1930 erstmals dokumentarische Klänge mittels Filmtonstreifen fürs Hörspiel nutzbar macht, ist von einer genuin intermedialen Ästhetik geprägt; er überträgt musikalische und filmische Darstellungsformen auf das Hörspiel.

Im Neuen Hörspiel werden die Audioprojekte des frühen Radios wiederaufgegriffen, einzelne Arbeiten auch neuinszeniert und widergespielt. Ziel war es, erlernte Nutzungsweisen und Hörmuster zu hinterfragen, um so Grenzen des Mediums auszuloten. Dadurch sollte eine "entnormierende Gegenbewegung (Helmut Heissenbüttel) zum normativen Fluss des Rundfunkprogramms und zur passiven Kontemplation von Kunst als rein innerästhetisch operierender Erlebnisform[]" (S. 17) geschaffen werden.

Anhand von Fallstudien einzelner Hörspiele von Wolf Vostell (Rebellion der Verneinung, 1969), Mauricio Kagel ((Hörspiel) – Ein Aufnahmezustand, 1970), Gerhard Rühm (Ophelia und die Wörter, 1969) sowie der lange Zeit unbeachteten Hörspielarbeit von Rolf Dieter Brinkmann (Die Wörter sind böse, 1974) werden in den letzten beiden Kapiteln intermediale Positionen ausgelotet und anhand formästhetischer Analysen vorgestellt.

Das Spiel mit allen nur denkbaren akustischen Materialien von Avantgarde, Neuem Hörspiel und Audiokunstprojekten der Gegenwart markiert gesellschaftspolitische wie ästhetische Umbrüche. Angestammtes Mediennutzungsverhalten und tradierte Hörgewohnheiten werden in Frage gestellt und lustvoll ad absurdum geführt. Seit den Anfängen des Radios "entstehen auf diese Weise Hörstücke, die Codierungen aufbrechen und in Frage stellen, neu codieren und den Ereignischarakter dieser Prozesse als momentanen Vollzug selbst zum Spielmaterial ihrer Reflexionen machen" (S. 15).

Wodiankas Arbeit stellt einen wesentlichen Beitrag zu einer längst fälligen Weiterschreibung der Hörspielgeschichte dar. Der auditive Gestaltungsbereich erfährt zwar seit Kurzem auch im deutschsprachigen Raum besondere Aufmerksamkeit, Radio- und Hörspielarbeiten bleiben dabei aber vielfach unbeachtet. Durch die Berücksichtigung intermedialer Interdependenzen in der Radiokunst gibt dieses Buch einen anregenden Impuls zur weiteren Auseinandersetzung wechselseitiger Resonanzen in Kunst und Medien.

 

[1] Vgl. Wolfgang Hagen: Formatradio: Programmierung von Selbstähnlichkeit. Referat zur 14. Hamburger Mediendebatte "Vielfalt im Gleichen? Von Format-Radios und Radioformaten", 20.5.1999, o. S., http://www.whagen.de/vortraege/Formatradio/Formradi.htm (Zugriff: 25.02.2018).

Autor/innen-Biografie

Christine Ehardt

Christine Ehardt ist Theater-, Film- und Medienwissenschafterin und Lektorin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien; Forschungsprojekte u. a.: "Ökonomie und Gender in der künstlerischen Reflexion von Frauen in Österreich" (2014–2015) und "Hörinszenierungen österreichischer Literatur im Radio" (2006–2009).

Publikationen (Auswahl):

Christine Ehardt: ""Wien, wie es klingt und kracht". Elfriede Jelineks Hörspiel Burgteatta als akustische Bilderreise". In: Elfriede Jelineks "Burgtheater" – Eine Herausforderung. Hrsg. v. Pia Janke/Teresa Kovacs/Christian Schenkermayr. Wien 2018, S. 291–304.

–/Georg Vogt/Florian Wagner (Hg.): Eurovision Song Contest. Eine kleine Geschichte zwischen Körper, Geschlecht und Nation. Wien: Zaglossus 2015.

–: "Ist das jetzt ein Monolog? Elfriede Jelineks Hörspiele als akustische (De-)Maskierungsorte", in: Hör!Spiel. Stimmen aus dem Studio. Hrsg. v. Helmut Peschina. Wien: Böhlau 2013, S. 91–102.

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Veröffentlicht

2019-05-15

Ausgabe

Rubrik

Medien