Max Ackermann: Die Kultur des Hörens. Wahrnehmung und Fiktion. Texte vom Beginn des 20. Jahrhunderts.

Nürnberg: Hans Falkenberg/Institut für Alltagskultur, 2003. 520 Seiten. ISBN 3-927332-20-8. Preis: € 44,--.

Autor/innen

  • Christine Ehardt

Abstract

By the Telephone Sound is converted into Electricity, and then by completing the circuit, back into sound again. Jones converts all the pretty Music he hears during the Season into Electricity, bottles it and pops it away in Bins for his Winter Parties. All he has to do, when his guests arrive, is to select, uncork, and then complete the Circuit. And there you are. (Punch, Almanack 1878)

Die hörbare Welt erweiterte mit Beginn ihrer technischen Reproduzierbarkeit das Spektrum an Geräuschen, Lauten und Stimmen. Die Hörwelt um 1900 in ihren verschiedenen Wahrnehmungszusammenhängen und Erscheinungsformen ist Gegenstand der Dissertation von Max Ackermann, die im Verlag Falkenberg veröffentlicht wurde.

Welche Bedeutung Geräusche und Stimmen in der europäischen Literatur um 1900 haben, ist ein bis dato kaum erforschtes Gebiet der Medien- und Kulturwissenschaft.

Max Ackermann versucht in seiner Studie über die Merkmale und Formen der akustischen Wahrnehmung, eine Kultur des Hörens nachzuzeichnen, die es erlaubt, eine Veränderung der Hörgewohnheiten im Laufe der Geschichte aufzuzeigen. Im ersten Teil wird vorwiegend am Beispiel von Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Möglichkeit einer Kulturgeschichte der Wahrnehmung im Allgemeinen und einer Geschichte des Hörens im Besonderen überprüft und anhand von Beispielen ausgelotet. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der technischen Reproduktion und dem Speichern akustischer Phänomene, wie sie mit der Erfindung des Phonographen und ähnlicher Medien ermöglicht wurde. Auch hierbei verwendet der Autor Beispiele aus der Literatur und zeigt, wie die literarische Praxis technische Innovationen mit Bedeutung versehen hat und in vielfältiger Form ihre gesellschaftlichen Auswirkungen inszenierte.

So lassen sich an der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts neue Hörgewohnheiten erkennen, die nicht nur Aufschluss über vielfältige Formen und Bedeutungen des Hörens geben, sondern auch ihre gesellschaftliche Determination aufzeigen. Dabei spielen die Bewertung und der Stellenwert von Akustischem und das Sichtbarmachen von Veränderungsprozessen eine besondere Rolle.

"Es war immer noch das Europa der Pferdegespänne und des Kopfsteinpflasters, aber auch schon das der Automobile und Straßenbahnen. Es war das Europa eines sich langsam mit Flugzeugen bevölkernden Himmels, das Abendland der Industrialisierung und der Städte und der Länder der sirrenden Drähte und der akustischen Medien, der Telephone und des Phonographen, des Grammophons und des Radios. Es war das Europa industrieller Urbanität und der Rede der ländlichen Stille. Es war das Feld technischer Neuerung, neuer und alter Musik. Es war die Zeit neuer Kommunikation und alter Konvention" (S. 118).

In den zeitgenössischen Beschreibungen des urbanen Alltagslebens wird dem Akustischen eine besondere Bedeutung beigemessen: Es dröhnt, rasselt, rollt, brummt und rauscht in den Werken von Virginia Woolf, Marcel Proust, James Joyce oder Robert Musil.

Ebenso wie die Hörwelt ändert sich auch ihre Bewertung. Max Ackermann bringt diese Topoi anhand literarischer Werke zu Gehör und versucht damit, das diskursive Feld der Wahrnehmungsveränderung abzustecken. Hören stellt sich für ihn dabei als kulturell geprägte und konventionalisierte Praktik dar: Es existieren historisch spezifische Wahrnehmungsmentalitäten, deren Spuren in den Texten aufgefunden werden können.

Damit hat er auch Klassikern der Literatur eine neue Form der Interpretation gegeben. So zum Beispiel weist er auf den überragenden Stellenwert der Oralität in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hin. Literarische Werke lernen die Protagonisten hauptsächlich durch das Hören-Sagen, die Konversation und mündliche Überlieferung kennen, und das Übersetzen von Schrift in gesprochene Worte erscheint als erste Bedingung der Rezeption.

Durch seine breite Quellenbasis ist es dem Autor gelungen, einen geradezu enzyklopädischen Überblick über die Welt des Hörens, wie sie in der Literatur um 1900 lesbar geworden ist, zu geben.

Autor/innen-Biografie

Christine Ehardt

Christine Ehardt ist Theater-, Film- und Medienwissenschafterin und arbeitet als Lehrbeauftragte am TFM. 2006–2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt "Hörinszenierungen österreichischer Literatur im Radio 1945-2000" in Wien. Derzeit entsteht die Dissertation "Kulturgeschichte des Radios in Österreich".

Veröffentlicht

2005-07-20

Ausgabe

Rubrik

Medien