Till A. Heilmann/Anne von der Heiden/Anna Tuschling (Hg.): medias in res. Medienkulturwissenschaftliche Positionen.

Bielefeld: transcript 2011. (Medienanalysen: 6). 300 S. ISBN 978-3-8376-1181-6. Preis: € 29,80.

Autor/innen

  • Christine Ehardt

Abstract

"In medias res" oder "medias in res", die bekannte Redewendung, deren sich auch die wissenschaftliche Rhetorik gerne bedient, will ohne Umschweife zur Sache kommen. Die rhetorische Figur steht seit Horaz' ars poetica für die Kunst, mitten in die Dinge hineinzublicken. Das in der Mitte Befindliche wiederum ist Grundlage der kulturwissenschaftlichen Definition von Medien. Genau dorthin blickt der Sammelband medias in res und lenkt den Fokus auf den aktuellen Stand der Grundlagenforschung medienkulturwissenschaftlicher Positionen. Anhand methodischer und theoretischer Leitlinien wie der Dekonstruktion, Diskursanalyse, Systemtheorie und Psychoanalyse werden exemplarisch kulturwissenschaftliche Medienforschungen aufgezeigt.

Während die gleichnamige Tagung, 2008 in Basel veranstaltet, noch in diese ausdifferenzierten Teilbereiche untergliedert war, kommt die Buchzusammenstellung mit nur drei Sektionen aus: Medialität, Ästhetik und Technik – als die drei größtmöglichen Nenner medien- und kulturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen. Die 16 Texte namhafter Beitragender rücken dabei die Wahrnehmung selbst ins Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über Medien und das Mediale. Das schafft Raum für neue Sichtweisen auf altbekannte Phänomene der Medienkultur.

Im ersten Teil des Sammelbandes werden theoretische Grundlegungen von Medien und Medialem verhandelt. Dieter Mersch, Hans-Joachim Lenger, Sybille Krämer, Rainer Leschke und Lorenz Engell suchen nach der Medialität der Medien und den Grenzen des medialen Denkens.

Dieter Mersch fragt in seinem Aufsatz "Res medii. Von der Sache des Medialen" nach ebendieser – recht ungreifbaren – Medialität der Medien. Wie kann beobachtet werden, was nur im eigenen Verschwinden etwas zur Erscheinung bringen kann? Merschs schlüssige Auseinandersetzung mit der "paradoxalen Verfasstheit von Medien" (S. 13) bringt die (Un-)Möglichkeit medialer Reflexion mit der Abänderung einer wittgensteinschen Formulierung auf den Punkt: Der Verstand muss sich beim Anrennen an die Grenzen des Mediums notwendigerweise auch Beulen holen. "Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckungen erkennen" (S. 38).

Als eine Urszene der Medialität macht Sybille Krämer den Botenbericht aus. Die Figur des Boten versteht die Autorin als Medium der Mitte und Mittler. Am Boten und am Beispiel des Zeugen zeigt Krämer Merkmale medialer Verfahren auf und rückt drei Intentionen des Medialen ins Blickfeld einer Grundlegung des Medialitätsdenkens: Selbstbild, Methodik und Medientheorie.

Lorenz Engell schlägt in seinem Text über "Kinematographie und Medialitätsphilosophie in Orson Welles' Film 'Im Zeichen des Bösen'" vor, Medienphilosophie nicht als Teilbereich der Medienwissenschaft oder der Philosophie zu betrachten, sondern sie als die Lehre von den Werkzeugen des Denkens und umgekehrt auch als Denken der Werkzeuge zu erkennen. Diesen medientheoretischen Topos macht er anhand der von Jiri Bystricky formulierten besonderen Position von Medien deutlich: Medien als etwas zu verstehen, das im Rücken der Subjekte und Objekte jedweder Beobachtung und Beschreibung immer schon vorhanden sein muss. Nach Peirce ist damit die Erstheit, nach Luhmanns Medienbegriff das Medium im Unterschied zur Form bezeichnet. Engell folgend soll Film als Teil der Welt verstanden werden, die wie der Film selbst im ständigen Wandel begriffen ist. Nicht die Frage, was Medien sind, sondern "wie sie werden, wie sie sich verändern und vergehen" (S. 93) steht im Zentrum seiner Mediendefinition.

Den medientheoretischen Positionen folgen Forschungsdesiderate aus medienarchäologischen und medienkünstlerischen Untersuchungen. Dieser – ausführlichste – Teil des Sammelbandes wird von Johannes Binotto, Ursula von Keitz, Helga Finter, Sigrid Adorf, Karl Prümm und Manfred Schneider bestritten. Wie sich Blick, Bild und Begehren im Film manifestieren, zeigt Johannes Binottos Text "'Io sono sempre vista'. Das Unheimliche dies- und jenseits des Bildes". Die Einbeziehung des psychoanalytischen Diskurses in die Kritik der Arbeiten des italienischen Regisseurs Dario Argento führt zwar nicht zu neuen, aber doch erhellenden Erkenntnissen über die filmische (Un-)Darstellbarkeit des Unheimlichen.

Akusmatische Stimmen, deren Körperquelle unsichtbar bleibt, sind im Film seit Michel Chions Untersuchungen zum Filmton wissenschaftlich etabliertes Forschungsmaterial; im Theater harren diese körperlosen Stimmen aber noch einer ausführlichen Untersuchung, denn erst seit Kurzem wird die 'Audio-Vision' des Theaters als eigenes Phänomen wahrgenommen. Helga Finters Artikel "Der (leere) Raum zwischen Sehen und Hören. Zu einem Theater ohne Schauspieler" thematisiert Formen der Entkörperlichung des Theaters und den Einzug der Konservenstimmen auf die Bühne. Anhand der lacanschen Trias des Symbolischen, Imaginären und Realen geht die Autorin der Frage nach intermediären Orten des Theatralischen nach und sucht nach Wahrnehmungsbrüchen und -störungen im experimentellen Theater. Warum ein Theater ohne Schauspieler nicht das Ende des Theaters, sondern dessen Transformation und Weiterentwicklung bedeutet, macht Finter anhand von Heiner Goebbels' Inszenierung Stifters Dinge deutlich. Eine Stimme ohne Körper ist immer mehr als nur eine Leerstelle; vielmehr bedeuten diese Stimmen eine Dekonstruktion des Begehrensverhältnisses zwischen Publikum und Bühne. Rezeptionskonventionen und Publikumserwartungen werden so irritiert und angeregt.

Einen medienhistorischen Blick wählt Karl Prümm bei seinen Ausführungen über die Bildpolitiken der Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts. Fotoplastische Verfahrensweisen dieser populären Magazine und ihre Auswahl an melodramatischen Sujets bildeten den inhaltlichen Grundstock der frühen Kinofilme, so die These Prümms, die er mit umfangreichem Bild- und Quellenmaterial unterlegt.

Wissensordnungen und das historische Apriori der technischen Medien sind der Ausgangpunkt der letzten Sektion des Buches; hier vollführen Avital Ronell, Bernhard Siegert, Laurence A. Rickels und Anna Tuschling diskursanalytische Betrachtungen über Wissen, Macht und Technik. Einen sehr persönlichen Blick auf die schöne neue Medienwelt wirft die Literaturwissenschafterin Avita Ronell in ihrem Text über "Die Fabel von der Medien-Technik: Unter meiner Aufsicht". Sie lässt dem Unmut über Email-Korrespondenzen mit ihren Studierenden auf amüsante Weise und als ein Beispiel angewandter Mediendiskursanalyse freien Lauf.

Auch der Lüneburger Medienwissenschafter Laurence A. Rickels kommt gleich zur Sache, – und auch er wählt die essayistische Form, um seine Positionen zum Menschen-Maschinen-Diskurs zu erläutern. Bei Bernhard Siegert wiederum sind es Glockenschläge, die eine Medienreflexion einläuten, markiert das Glockenläuten doch das Unaufschreibbare der Medien selbst. Die Glocke galt lange Zeit als "Ausnahmezustand der physikalischen Akustik" (S. 236) und erst 1930 gelang es der Wissenschaft die Glockenteiltöne zu klassifizieren. Anhand seiner Kulturgeschichte der Glocke liefert Siegert ein besonderes Beispiel dafür, wie Kulturgeschichte als Signalanalyse geschrieben werden kann.

Zu einer umfassenderen Betrachtung des Digitalen lädt Anna Tuschling ein. Anhand des bekannten lichtenbergschen Aphorismus vom "Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt" weist Tuschling nach, dass mit Lichtenbergs paradoxalem Sprach- und Technikverständnis nicht nur eine besondere Form der Sprachkritik intendiert ist, sondern hieraus auch neue Sichtweisen auf die Geschichte des Digitalen hervorgehen können.

Vorliegender Sammelband ist ein gelungener Querschnitt durch die Grundlagenforschung medienkulturwissenschaftlicher Untersuchungen. Vor allem die Auswahl und thematische Vielfalt der Beiträge beeindruckt. Natürlich können nicht alle Texte gleichermaßen reüssieren, aber die dichte Zusammenstellung ergibt ein schlüssiges Bild aktueller medienkulturwissenschaftlicher Positionen und durchwegs alle Beitragenden können mit der prägnanten Vorstellung ihrer eigenen Forschung punkten. Damit stellt der Tagungsband medias in res auch einen Paradigmenwechsel der Medienkulturwissenschaft vor, die eine Neuorientierung und Weiterentwicklung des Medialen formuliert und nicht mehr danach fragt, was Medien sind, sondern nach neuen Denkweisen des Medialen sucht.

Autor/innen-Biografie

Christine Ehardt

Christine Ehardt ist Theater-, Film- und Medienwissenschafterin und arbeitet als Lehrbeauftragte am TFM. 2006–2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt "Hörinszenierungen österreichischer Literatur im Radio 1945-2000" in Wien. Derzeit entsteht die Dissertation "Kulturgeschichte des Radios in Österreich".

Veröffentlicht

2013-12-12

Ausgabe

Rubrik

Medien