Marija Đokić: Eine Theaterlandschaft für Belgrad. Verflechtungen nationaler und europäischer Theaterpraktiken 1841–1914.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. ISBN: 978-3-525-31092-2. 332 S., Preis: € 54,99.

Autor/innen

  • Darija Davidovic

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-03

Abstract

Zwei Visionen der Moderne prägten maßgeblich die Entwicklung europäischer Hauptstädte im 19. und frühen 20. Jahrhundert – die europäische und die nationale Vision. Das Spannungsverhältnis zwischen der Genese einer eigenen nationalen Identität und den Einflüssen der Globalisierung prägte zu jener Zeit nicht nur das kulturelle Erbe von Metropolen wie Paris, Wien, Berlin oder Budapest, sondern auch die serbische Hauptstadt Belgrad. Wie sich die Gründung des Belgrader Nationaltheaters innerhalb solcher Entwicklungen positionierte, und zwar auch im Kontext von bisher in der Forschung kaum beachteten privaten Theatern, untersucht Marija Đokić in ihrer Dissertation Theaterlandschaft für Belgrad. Verflechtungen nationaler und europäischer Theaterpraktiken 1841–1914, die an der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Ludwig-Maximilians-Universität in München entstanden ist.

Die Untersuchung umreißt den Zeitraum ab der Ernennung Belgrads zur serbischen Hauptstadt 1841 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914. Đokićs Studie eröffnet Einblicke in den Urbanisierungsprozess Belgrads von einer kleinen osmanischen Provinzstadt zu einer europäischen Hauptstadt, wobei sie durch die Aufarbeitung der Belgrader Theatergeschichte das Wechselspiel zwischen Nationalisierung und Europäisierung akzentuiert. Đokić bricht das bisher in der Forschung gezeichnete Bild der serbischen Gesellschaft als einer stark nationalisierten Gemeinschaft auf, indem sie die transnationalen Verflechtungen serbischen Theaters untersucht. Parallel zur Entstehungsgeschichte eines Nationaltheaters in Belgrad geht Đokić zudem der Entwicklung verschiedener Theaterformen nach und ebnet unter der Verwendung eines erweiterten Theaterbegriffs den Zugang zu einer facettenreichen Theaterlandschaft "moderner" Prägung inklusive Tingeltangel, Varieté, Zirkus und Tanz.

Neben der Analyse des Nationaltheaters sowie verschiedener Privattheater spürt die Studie dem Einfluss von Wandertheatern und technologischen Innovationen wie dem Kino nach, aber auch der moderne Tanz wird in Bezug auf seine Etablierung in Belgrad in den Blick genommen. Welchen Beitrag historische Persönlichkeiten zu dieser Mannigfaltigkeit der Belgrader Theaterlandschaft leisteten, wird auf der Basis der kollektivbiographischen Methode anhand verschiedener Karriereprofile verdeutlicht. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, ein präzises Bild der Belgrader Theaterszene zu zeichnen und dabei deren gesellschaftliche Dimension zu thematisieren.

Die Autorin nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand aus verschiedenen Richtungen und strebt ein Gesamtbild durch die Untersuchung von politischen, transkulturellen und nationalen Einflüssen auf die darstellenden Künste in Belgrad an. Auch methodisch ist die Studie breit angelegt. Đokić erforscht sowohl den nationalen Kontext der Entstehung verschiedener Theaterformen sowie das Theater als Ort des transnationalen Kulturkontaktes, wobei sie Theaterformen und -praxen in Belgrad vergleichend mit Entwicklungen in anderen europäischen Metropolen diskutiert. Dabei versteht sie Theater innerhalb der serbischen Kulturszene als Akteur, der durch Inszenierungen soziokulturelle Veränderungen offen gelegt und dadurch neben Identitätsangeboten auch Orientierungshilfen in der modernen Lebenswelt geboten habe.

"Belgrad als Theaterstadt", so der Titel des ersten Kapitels, zeichnet den Entwicklungsprozess des Nationaltheaters nach und zeigt, unter welchen politischen, gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Bedingungen sich die langwierige Herausbildung desselben zur Kulturinstitution hinzog. Zahlreiche Intellektuelle, Politiker und Künstler ließen sich für die Idee eines Nationaltheaters begeistern, sie hatten jedoch mit einer Finanzkrise, mit Gegnern eines als "staatlich" deklarierten Theaterbetriebs sowie mit dem anfänglich spärlichen Interesse der Stadtbevölkerung zu kämpfen. Mit der Erforschung neuer Spektakelformen, dem Tanz- und Musiktheater sowie dem Arbeiter*innentheater leistet Đokić im letzten Teil des ersten Kapitels einen wertvollen Beitrag zur südslawischen Theaterhistoriographie.

Von der staatlichen Reglementierung der Belgrader Theater über die Verflechtungen von Politik und Kultur bis hin zur Rolle der Frau in den darstellenden Künsten umreißt das zweite Kapitel Gesellschaft und Theater als Spannungsfeld. Zunächst erläutert die Autorin die Theatergesetzgebung, die vor allem Finanzierungsfragen klären sollte. Die eingeführten Gebühren für ausländische Theatergruppen sowie für die privaten Theater in Belgrad, die das Nationaltheater vor konkurrierenden Vergnügungsangeboten schützen sollten, werden dabei für den zweitweise rückläufigen internationalen Kulturaustausch herausgearbeitet. Daneben unterstellte die Gesetzgebung weitere Theaterbetriebe in Serbien der Verwaltung des Nationaltheaters, womit die von diesem ausgehenden Impulse in das gesamte Königreich Serbien hinein wirken sollten. Die ideologischen Implikationen einer derartigen Reglementierung erläutert die Autorin anhand verschiedener Praktiken der Zensur und Selbstzensur, unter denen primär die privaten Theater zu leiden hatten. Der letzte Teil dieses Kapitels fokussiert auf die Lebensumstände und die Bedeutung der Belgrader Schauspieler*innen innerhalb des Modernisierungsprozesses, womit prekäre Lebensumstände und der Kampf für ein soziales Versorgungssystem in den Vordergrund rücken; letzterer mündete zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einen Rentenfonds aller am Theater beteiligten Akteur*innen. In einem gesonderten Abschnitt widmet sich Đokić den Frauen im Theatergeschäft und arbeitet die Leistungen für die gesellschaftliche Emanzipation heraus, die diese mit erkämpften.

Das Wechselspiel zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus ist das Grundthema des dritten Teils. Wie beide Bedürfnisse befriedigt wurden, wie einerseits die Stärkung des nationalen Dramas vorangetrieben und andererseits die Europäisierung des Repertoires angestrebt wurde, vermag eine umfangreiche Untersuchung der Spielpläne des Belgrader Nationaltheaters nachzuweisen. Ein Vergleich mit anderen europäischen Hauptstädten wie Wien, London oder Kopenhagen zeigt etwa, dass mit Alexandre Dumas dem Jüngeren, Victorien Sardou oder Émile Augier dieselben französischen Autoren in Belgrad aufgeführt wurden wie anderswo. Die Autorin macht damit deutlich, dass das Nationaltheater sich an den Entwicklungen und Trends europäischer Theatermetropolen orientierte und dadurch zu einem beliebten Ort für internationale Gastspiele avancierte.

Der Prozess der Nationenbildung und die Repräsentation der serbischen Identität und Kultur durch die darstellenden Künste erweist sich hinsichtlich der zuvor diskutierten Öffnung für europäische Dramen ebenso interessant wie widersprüchlich. Die Autorin erläutert durch den Vergleich der Nationenbildung anderer Metropolen, wie die Europäisierung mit der Nationalisierung einherging und sich beide Tendenzen nicht ausschließen mussten, im Gegenteil: Obwohl beispielsweise zahlreiche auf serbischen Mythen des Mittelalters basierende Dramen produziert wurden, weisen diese oftmals gleichzeitig eine transkulturelle Komponente auf. Diese Tendenz lässt sich auch an der Entwicklung des modernen Tanzes verdeutlichen, die primär durch Maga Magazinović geprägt wurde. Methoden der Improvisation und der individuellen Gestaltung des Tanzes, die sie bei Rudolf von Laban und Isodora Duncan kennengelernt hatte, vereinte die Tänzerin mit lokalen Volksliedern und Mythen.

Marija Đokić widmet sich am Ende ihrer Studie der Idee einer jugoslawischen Theatergemeinschaft, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts langsam eine panslawische Wendung nahm und Elemente einer ethnisch definierten Gemeinschaft formulierte. Erste Schritte für ein jugoslawisches Kulturverständnis waren die Genese einer serbo-kroatischen Sprache sowie die Gründung verschiedener jugoslawischer Kultureinrichtungen. Daraus entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit den Städten Zagreb und Novi Sad, wobei innerhalb dieses Dreiecks ein reger Repertoireaustausch gepflegt wurde.

Insgesamt gelingt es der Autorin, in ihrer Studie ein grundlegend neues Bild des Theaterlebens in der serbischen Hauptstadt zu zeichnen und dieses durch bislang unerforschte Bereiche zu erweitern; vor allem die Beschäftigung mit zahlreichen privaten Theatern schließt hier eine Lücke. Zudem animiert die Studie zu weiteren Forschungen, insbesondere hinsichtlich transnationaler Verflechtungen innerhalb verschiedener Aufführungspraxen.

Autor/innen-Biografie

Darija Davidovic

Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in München. Lehrtätigkeiten an der Akademie der Bildenden Künste in München zu feministischer Kunstgeschichte sowie feministischer Filmtheorie. Derzeit Doktorandin am Institut für Theater- Film- und Medienwissenschaften an der Universität Wien und Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das Thema der Promotion ist die Verhandlung der Kriegsgeschichte der 1990er-Jahre im ehemaligen Jugoslawien und ihre Folgen im politischen Theater Serbiens und Kroatiens. 2016/17 Forschungsaufenthalt in Belgrad im Rahmen des Marietta Blau Stipendiums des Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Publikationen:

-, zus. mit Weschke, Dana: "Der Mensch sollte im Vordergrund stehen und nie die Frage, ob man Deutscher oder Türke ist. Gespräch mit Nezaket Ekici". In: Kritische Berichte 2011, H. 4, S. 69-77.

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Veröffentlicht

2020-05-25

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Rubrik

Theater