Natalie Alvarez: Theatre and War.
New York: Bloomsbury 2023. ISBN: 9781137584250. 120 Seiten, 11,65 $.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-01Abstract
Am 24. Februar 2022 überfällt Russland die Ukraine. Knapp einen Monat später wird bei der Belagerung von Mariupol das Drama-Theater durch einen Luftangriff zerstört, bei dem schutzsuchende Zivilist*innen ums Leben kommen. Kurz darauf setzt das Ensemble des Drama-Theaters seine Arbeit fort. Auf dem Spielplan steht ein Stück über einen ukrainischen Dissidenten, der in den 1980er Jahren in einem russischen Gefangenenlager stirbt.
Mit der Beschreibung der lebensbedrohlichen Situation der Theaterkünstler*innen in Mariupol wählt Natalie Álvarez, Professorin für Theatre and Performance Studies an der Metropolitan University in Toronto, zu Beginn ihrer Studie theatre & war ein prägnantes Beispiel für die Wechselwirkung zwischen Theater und Krieg: das Theatergebäude wird zum Schutzraum und zum Ziel militärischer Angriffe; der Krieg wird zum zentralen Thema der neuen Inszenierung und Theater wiederum zum Mittel des Widerstands und Umgangs mit traumatischen Erlebnissen.
Theater über Krieg steht jedoch nicht im Zentrum der Untersuchung. Stattdessen werden die Wechselbeziehungen und Gemeinsamkeiten von Theater und Krieg hinsichtlich performativer Mittel, Probeprozesse, Schauspielmethoden sowie bezüglich des Verhältnisses zwischen Zeigen und Schauen durchleuchtet. Vier Fragen sind dabei leitend:
- Wie werden die Mittel des Theaters in der Kriegsführung eingesetzt?
- Wie werden die Mittel der Kriegsführung in Theaterinszenierungen eingesetzt?
- Welches sind die gemeinsamen Interessen von Theater und Krieg?
- Wie ist Performance zu einem militärischen Paradigma geworden?
theatre & war ist in der Reihe theater and erschienen, die derzeit 53 Studien umfasst und in knapper Ausführung Theater mit verschiedenen Aspekten des Lebens in Verbindung setzt. Die Studie von Álvarez ist in acht Kapitel gegliedert und umfasst neben zwei einführenden Kapiteln und einer abschließenden Diskussion fünf Hauptkapitel, in denen Synergien von Krieg und Theater anhand zahlreicher Beispiele durchgearbeitet werden. Der von Álvarez implizierte Theaterbegriff scheint dabei breit gefasst zu sein, da sowohl Militärübungen, Performance, Tanz, sowie therapeutische Theatersettings gleichermaßen als Theater begriffen und diskutiert werden. Dies führt beim Lesen jedoch nicht zu Missverständnissen, da die Autorin zwischen ästhetischer Praxis und militärischem Agieren stets nachvollziehbar differenziert. Die Untersuchung basiert auf der Prämisse, dass Theater und Krieg seit jeher tief verbunden sind. Dies begründet Álvarez etymologisch, unter anderem mit der Kategorisierung von Kriegsschauplätzen als Kriegstheater oder mit historischen Inszenierungspraktiken von Krieg, die sich in verschiedensten Kulturräumen finden lassen.
Im ersten einleitenden Kapitel führt die Autorin die Leser*innen zunächst ins italienische Sabbioneta des 16. Jahrhunderts und ins dortige Odeon. Aus der Perspektive des Publikums beschreibt Álvarez Szenen einer Kampfhandlung, die mit Fanfaren eingeleitet wird und den Herzog von Sabbioneta als Darsteller inszeniert. Die beschriebenen Szenen dienen der Autorin als Grundlage für ihre Diskussion über die historischen Verbindungen von Theater und Krieg. Das Odeon in Sabbioneta sei gemäß Álvarez ein prägnantes Beispiel für Theaterarchitektur, die speziell für die Inszenierung von Krieg konstruiert wurde, während die Schrecken des Kriegs durch solche Inszenierungen verzerrt dargestellt wurden.
Daran anknüpfend diskutiert Álvarez historische Wechselbeziehungen zwischen Theater und Krieg. Als Beispiel nennt sie etwa Aischylos Die Perser oder von Mayas und Azteken aufgeführte Tänze, die auf einen bevorstehenden Kampf vorbereiten sollten. Anschließend folgen Ausführungen zum Aufbau und Inhalt der Studie, jedoch fehlen Angaben zu den methodischen Herangehensweisen. Zwar werden beim Lesen der einzelnen Kapitel die Methoden ersichtlich, allerdings wäre es bei dem spannenden empirischen Vorgehen erfreulich gewesen, Erläuterungen diesbezüglich voranzustellen. So fällt ins Auge, dass Álvarez mit zivilen Darsteller*innen und leitenden Offizier*innen von Militärübungen Interviews geführt hat und auch selbst an solch einer Übung teilgenommen hat, um sich den theatralen Mitteln simulierter Kriegsszenarien mittels ethnographischer Methoden zu nähern. Informationen über Interviewmethoden wären hinsichtlich derzeitiger methodischer Debatten in der Theaterwissenschaft wünschenswert gewesen.
Im zweiten Einführungskapitel geht die Autorin der aus der Verbindung von Theater und Krieg hervorgehenden Semantik nach. Hierbei greift Álvarez ebenfalls auf historische Bezüge zurück und veranschaulicht anhand des lateinischen Begriffs teatro belli, der übersetzt "Kriegsschauplatz" bedeutet, oder am Beispiel des von Carl von Clausewitz geprägten Begriffs des Kriegstheaters die etymologische Verbindung beider Elemente. Dabei sind es nach Álvarez vor allem räumliche Aspekte, die beim Kriegstheater entscheidend sind und letztendlich zu einer Inszenierung des Raumes und einer spezifischen Konzeption des Kriegsschauplatzes führen. Hinsichtlich moderner Technologien, die gegenwärtige Konflikte und Kriege prägen – etwa den "Krieg gegen Terror" –, sei es nach Álvarez nicht mehr möglich, einen klaren battlespace abzustecken, da dieser verschiedene Räume umfassen kann.
Das Kapitel schließt Álvarez mit der ernüchternden Bestandsaufnahme, dass Krieg mittlerweile ähnlich wie Theater paradigmatisch für die Betrachtung der Welt geworden und ebenso wenig wie Theater auf Bühnen, also auf ein spezifisches Schlachtfeld beschränkt ist.
Im ersten Hauptkapitel "Rehearsals" geht die Autorin der Frage nach, wie militärische Trainings auf Mittel der Improvisation, des Rollenspiels und der Inszenierung zurückgreifen, um Soldat*innen auf einen Krieg vorzubereiten. Dafür beschreibt sie eine simulierte Kampfszene, an deren Ende ein Darsteller in der Rolle eines islamistischen Selbstmordattentäters eine Bombe zündet. Álvarez zufolge wird die Militärübung des CMTS (U.S. Committee on the Marine Transportation System) nach dieser Szene beendet und der leitende Offizier zeigt sich zufrieden über die lebensrettenden Erfahrungen, die die Soldat*innen mit dem unerwarteten Ausgang des Trainings gemacht haben. Im Gespräch mit einer Darstellerin afghanischer Herkunft, die die Rolle einer afghanischen Zivilistin übernimmt, beschreibt Álvarez wiederum die re-traumatisierende Erfahrung solcher Militärübungen. Diese Gegenüberstellung führt die Autorin jedoch nicht weiter aus. Auch fehlt es an Informationen bezüglich der geführten Interviews: Welche Interviewmethode wurde gewählt? Welche Forschungsfragen waren leitend? Mit wem wurden Interviews durchgeführt? Wie wurden sie ausgewertet und analysiert?
Álvarez springt indes gleich zur Künstler*innengruppe WOW und ihrer Produktion Surrender (2008), um zu erläutern, wie mit den Mitteln des Militärs im Theater Krieg inszeniert wird. In Surrender wird das Publikum aufgefordert, in einem simulierten Kriegsgebiet nach irakischen Zivilist*innen zu suchen, womit dem Publikum laut Álvarez ermöglicht wird, dem Realen mit den Mitteln des Theaters zu begegnen.
In "Body as a battlefield" untersucht Álvarez Verbindungen zwischen Schauspieltraining und Militärübung und fragt nach der Militarisierung von Körpern sowie deren Einfluss auf die Produktion von Waffen. Am Beispiel der Performance domestic tension (2009) von Wafaa Bilal diskutiert sie, wie sich Performances über Krieg moderner Kriegstechnologien bedienen, um den Prozess der Militarisierung menschlichen Tuns zu entlarven. In domestic tension verweilt Bilal einen Monat in einem Ausstellungsraum, in dem ferngesteuerte Paintball Waffen auf ihn gerichtet und abgeschossen werden können. Der Künstler nutzt hierfür Technologien, wie sie im Krieg für das Steuern von Drohnen eingesetzt werden und zeigt auf drastische Weise, wie der Prozess der Dehumanisierung durch einen einzigen Mausklick erfolgen kann.
In "Spectacle & spectatorship" fragt Álvarez, wie Krieg als Spektakel wahrgenommen wird und wie diese Erfahrung die Wahrnehmung von Krieg beeinflusst. Sie führt an, dass es historisch gesehen durchaus üblich gewesen sei, Kriegen aus sicherer Distanz zuzuschauen, aber auch Kriege in großformatigen Reenactments nachzustellen, woran sich etwa Louis XIV beteiligt haben soll. Das Zuschauen bei Krieg – ob inszeniert oder real – galt demnach europaweit als beliebte Freizeitaktivität der Aristokratie. Hinsichtlich der Medialisierung von Krieg seit dem 20. Jahrhundert sowie der zunehmenden Inszenierung des Militärs wird in den historischen Beispielen eine interessante Kontinuität der Darstellungspraktiken von Krieg mit Mitteln des Theaters aufgezeigt.
In "Hearts & minds" befasst sich Álvarez mit der Frage, wie Theater und Krieg Empathie einsetzen und wie eine Militarisierung der Empathie dazu einlädt, die Effekte des Einfühlens im Theater zu überdenken. Dafür zieht sie ihre Erfahrungen als Darstellerin einer afghanischen Zivilistin bei einer Militärübung heran. Sie beschreibt eindringlich, wie – basierend auf der Maxime know your enemy – kulturelle Identität performativ erzeugt wird. Denn die Konstruktion des kulturell "Anderen" durch Empathie sei für das Militär unerlässlich (S. 54). Im Training für die US-Special-Force stehe demnach Empathie als militärische Strategie im Vordergrund, um sich in den Feind einzufühlen, was laut Álvarez eine Militarisierung von Empathie zur Folge hat. Die Technik des Einfühlens in vermeintliche Feinde vergleicht sie folgerichtig mit der Schauspieltechnik Stanislawiskis.
Im finalen Kapitel "Postmortem" hebt Álvarez Theater als Mittel der Versöhnung, der Traumabewältigung und als "postwar act of cleaning" (S. 66) hervor. Hierzu diskutiert sie Arbeiten der peruanischen Gruppe Yuyachkani, die in ihren Aufführungen an Opfer der bewaffneten Konflikte in Peru von 1980 bis 2000 erinnert und eng mit der dortigen Wahrheitskommission zusammengearbeitet hat. Yuyachkani stellt die Autorin das Projekt "Theatre of War" von Bryan Doerries entgegen. In Zusammenarbeit mit dem US-Verteidigungsministerium, der Harvard Medical School und den NYC Veterans wurden aufbauend auf griechische Tragödien Strategien erarbeitet, um Veteran*innen einen besseren Umgang mit ihrer Posttraumatische Belastungsstörung zu ermöglichen. Wie Theater wiederum Techniken des Militärs adaptiert, zeigt die Autorin anhand des Theaterbeispiels you are dead. you are here (2013). Darin wird mittels einer Therapieform, die beim Militär eingesetzt wird, das Thema der Posttraumatischen Belastungsstörung von Veteran*innen bearbeitet. Die Autorin zieht ausgehend von diesem Beispiel ihre kritische Bilanz: nämlich die, dass Theater eng mit Krieg verbunden und demnach moralisch nicht überlegen sein könne beziehungsweise sich davon moralisch schwerlich lösen könne. Álvarez argumentiert abschließend, dass Theater und Krieg nicht voneinander zu trennen sind und dass diese Umstände die Annahme zunichtemachen, Theater könne nur als Mittel des Protests gegen Krieg herangezogen werden.
Trotz der verkürzten Darlegung und stellenweise zu knappen Kontextualisierung der Beispiele, ist der Erkenntnisgewinn dieses Büchleins groß und allen zu empfehlen, die an der Verwobenheit von Theater und Krieg, ihrer Diskurse und wechselseitigen Indienstnahmen interessiert sind.
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