Milija Gluhović: Theory for Theatre Studies: Memory.
London: Bloomsbury 2020. ISBN: 9781474246644. 184 S., Preis € 13,80.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2021-2-04Abstract
In Theory for Theatre Studies: Memory untersucht Milija Gluhović, Professor für Theater und Performance an der Universität Warwick, Überschneidungen zwischen den Bereichen der Theaterwissenschaft und der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung. Erschienen ist die Monographie als dritte Ausgabe der gleichnamigen Reihe, die von Susan Bennett und Kim Solga herausgegeben wird und sich mit zentralen Schlüsselbegriffen der Theaterwissenschaft befasst – etwa Raum, Körper, Bewegung oder Ökonomie. Laut den Herausgeberinnen ist die Reihe als Einführungslektüre in Ideenkonstellationen, Methoden und Theorien der Theaterwissenschaft konzipiert, die im 21. Jahrhundert an zentraler Bedeutung gewonnen haben. Aufgrund der komplexen theoretischen Bezüge in der Ausgabe Memory, geht der einführende Charakter stellenweise verloren. Mittels anschaulicher Analysen werden jedoch die vielschichtigen theoretischen Zusammenhänge entwirrt und somit greifbarer. Für eine Vertiefung in die jeweilige Thematik findet sich in jeder Ausgabe der Reihe ein Abschnitt mit weiterführender Literatur sowie Links und Diskussionsfragen auf der Website des Verlags.
Die Ausgabe Memory baut theoretisch auf dem Standpunkt Marvin Carlsons auf, dass sich Theater aufgrund seiner vielschichtigen Kommunikationsformen besonders gut für die Vermittlung historischer Narrative eignet. Nach Meinung Carlsons können Dynamiken des kollektiven Gedächtnisses sowie individuelle Erinnerungsvorgänge durch diverse Aufführungspraktiken besser greifbar gemacht werden (S. 9). Zudem bezieht sich Gluhović in seiner Einleitung auch auf Rebecca Schneiders Untersuchungen zum politischen und sozialen Potenzial von Reenactments. Schneider untersucht in Performing Remains (2011) das Verhältnis zwischen historischen Ereignissen und deren Nachbildungen. Neben Kriegen definiert sie auch Theaterstücke und Performances als historische Ereignisse, die von Gegenwartskünstler*innen wie beispielsweise Marina Abramović in Seven Easy Pieces (2005) nachgestellt werden. Schneiders These, dass durch Nachahmungen die Linearität der Zeit durchbrochen und somit die historiografische Untersuchung vergangener Ereignisse vorangetrieben werden kann, sowie Carlsons Definition von Theater als "Erinnerungsmachine", führen Gluhović zu seinen zentralen Fragestellungen – etwa wie Theater genutzt werden kann, um Aspekte der Vergangenheit zu erforschen oder wie verdrängte Geschichte ins kollektive Bewusstsein tradiert werden kann. Die Fragen, wie Erinnerungsdiskurse auf Produktionen des internationalen Gegenwartstheaters Einfluss nehmen und welche ethischen und politischen Dimensionen Theaterstücke mit der Verhandlung von gewaltvoller Vergangenheit annehmen können, fließen ebenfalls in die Diskussion mit ein. Und schließlich, warum Erinnerung als politisches Instrument genutzt wird, um auf die Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren.
In drei Kapiteln geht Gluhović drängenden Fragen der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung nach, die er als methodologischen Zugang für seine Fallstudien wählt und mit theaterwissenschaftlichen Überlegungen verbindet. Fragen nach Wahrheit und Authentizität, Ethik und Politik sowie nach dem Spannungsverhältnis zwischen Erinnerung und Geschichte erscheinen hierbei zentral. Hierzu bezieht sich der Autor in seiner Einleitung zunächst auf die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, für den Geschichte nicht in der Vergangenheit verborgen liegt, sondern im Antlitz gegenwärtiger Gefahren zu suchen ist. Erinnerung meint in diesem Sinne eine Bewusstwerdung historischer Vorgänge und ihrer Bedeutung für gegenwärtige Verhältnisse. Warum Erinnerung zu einem bedeutenden politischen Instrument geworden ist, erläutert Gluhović mit dem überzeugenden Argument des italienischen Historikers Enzo Traverso, für den die zunehmende Obsession mit der Vergangenheit ein Ausdruck fehlender Utopien in der modernen Welt darstellt (S. 3).
Im zweiten Kapitel "Searching for a Common Ground: Performance, Testimony, and Small Acts of Repair" geht Gluhović den Fragen nach Darstellungsmöglichkeiten von Authentizität und Wahrheit im Theater nach sowie der Frage, wie Theater als Korrektiv beziehungsweise als eine Form der Wiedergutmachung für vergangene Verbrechen eingesetzt werden kann. Hierzu verbindet er seine vorhergehenden theoretischen Überlegungen mit der Frage nach dem individuellen psychologischen Effekt der Wiedergutmachung durch Erinnern. Mit Analysen der Theaterproduktionen Minefield (2016) der argentinischen Schriftstellerin und Regisseurin Lola Arias, Common Ground (2015) der israelischen Theaterregisseurin Yael Ronen und des Theaterepos The Seven Stream of the River Ota (1994) des kanadischen Theaterregisseurs Robert Lepage lotet Gluhović Möglichkeiten des Theaters aus, menschliche Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Theater zu vermitteln. Während Minefield und Common Ground auf den Biographien der Schauspieler*innen aufbauen und sich mit dem Falklandkrieg (1982) beziehungsweise mit den jugoslawischen Zerfallskriegen (1991-1995) befassen, erzeugt Lepage über individuelle Geschichten Verbindungen zwischen dem Zweiten Weltkrieg, den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und der Aids-Krise der 1980er und 1990er Jahre. Allerdings nicht – wie Gluhović gekonnt herausarbeitet, um die historische Bedeutung der jeweiligen Katastrophen gleichzusetzen, sondern vielmehr um eine Geschichte menschlicher Fehlbarkeit sowie menschlichen Leids zu erzählen, die mittels einer Auflösung linearer Zeitstrukturen die Geschichte der Menschheit als fortwährende Suche nach Sinn und Frieden angesichts von Tod und Leid offenlegt. Seiner Verortung der hier genannten Beispiele zwischen Performativität und Theatralität fügt er jedoch keine weiteren Erläuterungen bei, woraus Fragen entstehen, mit denen die Leser*innen an dieser Stelle alleine gelassen werden.
Im letzten Kapitel "Memory and Migration" erörtert Gluhović anhand zweier Theaterbeispiele das erinnerungspolitische Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessens im Kontext von Migration. In welchem Zusammenhang dabei die gegenwärtige europäische Migrationspolitik mit der europäischen kolonialen Vergangenheit zu betrachten ist, wird anhand der Analyse von Small Island (2019) gezeigt. Mittels dreier Biographien untersucht die Regisseurin Helen Edmonson die Geschichte der sogenannten 'Windrush-Generation' – Einwander*innen aus den ehemaligen britischen Besatzungsgebieten in der Karibik, die 1948 nach Großbritannien auswanderten, um sich als Arbeiter*innen beim Wiederaufbau des Landes zu beteiligen. Jahrzehnte später verlieren sie ihre Aufenthaltsechte durch behördliches Versagen. In der Produktion werden Erinnerungen karibischer Migrant*innen als zentrale Erzählperspektive herangezogen, womit bisherige Narrative zu diesem Abschnitt der britischen Kolonialgeschichte herausgefordert werden.
Anhand des Beispiels Portugal is not a small country (2015) des portugiesischen Künstlers André Amálio untersucht Gluhović künstlerische Strategien im Theater, mit denen verdrängte Erinnerungen an vergangene Verbrechen ins Bewusstsein tradiert werden, die aber gleichzeitig Parallelen zwischen vergangenen und gegenwärtigen nationalistischen Aspirationen offenlegen. Wie Gluhović detailliert herausarbeitet, seziert Portugal is not a small country die Ideologie des Lusotropikalismus, dem die Vorstellung einer moralischen und historischen Überlegenheit Portugals als Kolonialmacht zugrunde liegt. Anhand dokumentarischer Elemente, wie beispielsweise Interviews mit portugiesischen Einwander*innen, sowie popkultureller Zitate, in denen der Lusotropikalismus propagiert wird, legt Amálio die in der portugiesischen Kultur tiefsitzenden Dynamiken des portugiesischen Imperialismus offen, wodurch, nach Meinung von Gluhović, das kollektive Gedächtnis Portugals herausgefordert wird.
Gluhović schließt seine Monographie mit der Bestandsaufnahme ab, dass angesichts der gegenwärtigen globalen Flüchtlingspolitik Erinnerung und Migration als Themenkomplex in den Fokus theaterwissenschaftlicher Untersuchungen rücken sollte. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass eine Unterscheidung zwischen Flucht und Migration nicht nur für wissenschaftlichen Untersuchung unabdingbar erscheint, sondern eine synonyme Verwendung beider Begriffe hinsichtlich öffentlicher Debatten um die gegenwärtige Flüchtlingspolitik eine Relativierung der Lebensrealitäten Geflüchteter begünstigen kann.
Mit Theory for Theatre Studies: Memory ist Gluhović eine umfassende, wenn auch stellenweise für eine Einführungslektüre etwas zu komplexe Zusammenführung aktueller Fragen und Theorien der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung mit theaterwissenschaftlichen Überlegungen gelungen, die als Ausgang für weiterführende Forschungsarbeiten zu empfehlen ist. Das interdisziplinäre theoretische Gerüst, das Gluhović erarbeitet, veranschaulicht gemeinsam mit den Fallstudien Möglichkeiten des Theaters, als Korrektiv beziehungsweise als mediales Dispositiv zu fungieren.
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