Lee Teodora Gušić: Theater im Krieg – Friedenstheater?
Berlin: Frank & Timme 2021. ISBN: 978-3-7329-0674-1. 560 Seiten, 78,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-1-02Abstract
Sowohl im Theater als auch in der Literatur mangelt es an Auseinandersetzungen mit weiblichen Erfahrungen der Jugoslawienkriege, kritisiert die Germanistin, Aktivistin und Künstlerin Lee Teodora Gušićs. Ferner konstatiert sie, dass in der literaturwissenschaftlichen Forschung die Darstellung sowie die Verhandlung von Krieg und Gewalt in Theatertexten meist nur mit starken Bezügen zur Prosa untersucht wird. Analysen von Stücken über weibliche Erfahrungen im Kontext der Jugoslawienkriege, die zudem von Frauen geschrieben wurden, sind laut Gušić kaum in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft vorzufinden. Deshalb widmet sie sich in ihrer Dissertation Theater im Krieg – Friedenstheater? Theaterstücke zu den Jugoslawienkriegen 1991–1999 der Triade Theater – Frauen – (Jugoslawien)kriege sowie deren wechselseitigem Verhältnis. Dabei beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, wie die ausgewählten Werke, die zwischen 1995 und 2011 entstanden sind, mit den Jugoslawienkriegen von 1991 bis 1999 umgehen.
Den Fokus ihrer Untersuchung setzt Gušić auf die Bereiche Komik und Gewalt sowie auf die Konzeption der Frauenfiguren und deren Sprache. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die fünf Stücke Blasted/Zerbombt (1995) von Sarah Kane, Belgrader Trilogie von Biljana Srbljanović (1999), DIE PAVILLONS oder Wohin gehe ich, woher komme ich und was gibt’s zum Abendessen von Milena Marković (2001), Žena bomba/Bombenfrau von Ivana Sajko (2003) sowie sophia or while i almost ask for more or a parable of the ruler and the wisdom (2011) von Simona Semenić. Ergänzend zieht Gušić weitere Dramentexte der genannten Autorinnen heran. Aufführungen und Performances anderer Künstler*innen, die laut Gušić die Fragestellungen erhellen, werden ebenfalls besprochen, woraus sie einen umfangreichen Untersuchungskorpus sowie zahlreiche intertextuelle und interkulturelle Bezüge erschließt.
Die Auswahl der fünf Theatertexte begründet Gušić damit, dass alle Autorinnen innerhalb eines europäischen geographischen Raums zu verorten sind, alle international einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben, über sexualisierte Gewalt schreiben sowie alle der gleichen Generation angehören (sie sind zwischen 1970 und 1975 geboren) und somit alle von Krieg – wenn auch auf unterschiedliche Weise – beeinflusst wurden. Die Jugoslawienkriege verortet Gušić ebenfalls innerhalb eines europäischen Kontextes und bezeichnet diese als die "ersten europäischen Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg" (S. 16). Sie verweist kritisch darauf, dass das Gebiet der Nachfolgestaaten Jugoslawiens häufig unter dem Codewort "Balkan" als vermeintlich "wild und chaotisch" zusammengefasst wird. Der sozialistische Vielvölkerstaat Jugoslawien und seine emanzipatorischen Errungenschaften (hohe Alphabetisierungsrate, Reisefreiheit oder starke Säkularisierung) würden somit in den Hintergrund geraten und die jugoslawische Frauenbewegung auf "Vergewaltigungen auf dem Balkan" zurückgeworfen.
Die Studie ist in zehn Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel stellt Gušić ihr Forschungsinteresse, den Gesamtkorpus, ihre Hypothesen sowie den daraus resultierenden umfangreichen Fragekatalog vor, den sie in vier Bereiche unterteilt ("Fragebereiche A bis D", S. 16). Neben der Rolle von Erinnern, Gedenken und Verarbeiten untersucht Gušić auch, inwiefern sich die Jugoslawienkriege und deren Folgen auf andere Konflikte und Kriege übertragen lassen. Daneben soll die Lesart der Stücke, die Geschlechterkonstruktionen, die Darstellung von Gewalt und schließlich "Humor, Witz und Groteske sowie ihr Verhältnis zu Krieg und Theater" diskutiert werden (S. 47). Schilderungen positiver Erfahrungen von Krieg möchte Gušić in den ausgewählten Werken ebenfalls herausarbeiten, was vor dem Hintergrund der darin äußerst brutal geschilderten Gewalt und Zerstörung besonders interessant erscheint. Denn dadurch tun sich nicht nur Widersprüche und Brüche in der Rezeption auf, sondern auch Momente der Hoffnung. Folglich soll aufgezeigt werden, inwiefern die Beispiele "kommunikativ-versöhnliche, heilsame Elemente enthalten" (S. 18). Somit rückt auch die Bedeutung von Sprache und Kommunikation im Kontext von Krieg in den Blick der Untersuchung sowie die Frage, inwiefern Kommunikation als Mittel der Konfliktlösung und -bewältigung in den ausgewählten Theatertexten enthalten ist.
Mit diesem Vorhaben spannt die Autorin einen Bogen zum titelgebenden "Friedenstheater" in ihrer Arbeit, welches sie erst im letzten Teil des zweiten Kapitels genauer definiert (vgl. S. 57f). Vorab hält sie hierzu fest, dass Theater vor allem in Serbien während des Milošević-Regimes alternative Sichtweisen zu den kontrollierten Staatsmedien bot. Unerwähnt bleiben jedoch Theaterinszenierungen, die der politischen Agenda des Milošević-Regimes sowie der xenophoben Propaganda der 1990er Jahre zuspielten, indem sie Themen aufgriffen, die auf das serbische Opfernarrativ zu jener Zeit zugeschnitten waren. Bezogen auf die Theatertexte von Kane, Sajko, Srbljanović, Marković und Semenić hält die Autorin fest, dass tabuisierte Themen, wie etwa sexualisierte Gewalt, dargestellt und dadurch zur Sprache gebracht werden, was zu einer gesamtgesellschaftlichen Kommunikation darüber beitragen kann. Unter "Friedenstheater" versteht die Autorin schließlich ein Theater mit Held*innen, "die zu gewaltfreien Aktionen finden" (S. 66), beziehungsweise ein Theater, das zu Lernprozessen durch Beobachtung, Einfühlung und Nachahmung friedlicher Konzepte einlädt.
Im zweiten Kapitel arbeitet sich Gušić zunächst in knapper Ausführung an dem aktuellen Forschungsstand zum Themenkomplex "Frauen und Krieg" ab. Anschließend diskutiert sie Begriffe wie Konflikt, Aggression, sexualisierte Gewalt und Krieg. Sie differenziert dabei zwischen Konflikt und kriegerischer Gewalt, zwischen physischer und verbaler Gewalt und erläutert nachfolgend geschlechterspezifische Kriegsgewalt.
Im anschließenden Unterkapitel zum historischen Kontext der Jugoslawienkriege trägt Gušić hauptsächlich Zahlen zu Vertriebenen und zu Todesopfern der Kriege zusammen und erläutert die Brisanz der (ethnischen) Zugehörigkeitsfrage während der Jugoslawienkriege anhand des starken Nationalismus sowie einer neuen Religiosität zu Beginn der 1990er Jahre. Für die Analyse der Theaterbeispiele erscheint diese Frage jedoch weniger relevant, da die Konflikte in den Stücken nicht auf die ethnische Zugehörigkeit der Figuren zurückzuführen sind, sondernd auf toxische Geschlechterbeziehungen. Im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels widmet sich die Autorin der Sprache als Kriegsschauplatz sowie dem Verhältnis von Humor und Krieg. Fragen nach einer kriegsspezifischen Komik sowie einer spezifischen Form von Humor im Kontext von Gender führen sie schließlich zur Schlussfolgerung, dass sich der Humor in den ausgewählten Theaterstücken insbesondere durch Ironie und als friedliches Mittel der Verständigung auszeichnet.
Im dritten Kapitel entwirft Gušić einen Forschungsbericht zum Themenkomplex "Theater und Jugoslawienkriege" und diskutiert einzelne Bereiche der zentralen Fragestellungen. Hierzu bespricht sie Theaterstücke und Performances, die nach ihrem Ermessen für das Verständnis der Werke von Kane, Sajko, Srbljanović, Marković und Semenić relevant sind, wie etwa die Performance balkan baroque von Marina Abramović sowie der Einakter Krieg im dritten Stock von Pavel Kohout. In zwei darauffolgenden Unterkapiteln bespricht Gušić weitere Werke zu den Jugoslawienkriegen, um die Besonderheiten der zentralen Analysebeispiele herauszuarbeiten. Stücke von Autoren wie Peter Handke, Slobodan Šnajder und Dejan Dukovski werden mit Inszenierungen von Oliver Frljić verglichen, ohne dabei zwischen Inszenierungen und Theaterstücken zu differenzieren, was beim Lesen stellenweise für Verwirrung sorgt.
In den Kapiteln vier bis acht untersucht Gušić chronologisch und beginnend mit Sarah Kanes Blasted die zentralen Analysebeispiele. Dabei sind alle Kapitel ähnlich strukturiert: Nach Angaben zu Biographie der jeweiligen Autorinnen und zur Rezeption ihrer Werke erläutert Gušić die Struktur des Stücks, Handlungsorte, Figurenkonstellationen, die Darstellung von Gewalt sowie Humor und Komik. Gušić arbeitet heraus, dass in allen Stücken Mutterschaft aufgegriffen und thematisiert wird, allerdings wird diese weder idealisiert noch romantisiert. Hinsichtlich des Krieges als gesellschaftlichem Ist-Zustand sowie der gewalttätigen und stets alkoholisierten Vaterfiguren distanzieren sich die weiblichen Figuren von ihrer Schwangerschaft und ihrer bevorstehenden Rolle als Mutter. Trotz der Gewalt, die sie in den Stücken erfahren, die vor allem in Kanes Blasted extreme Ausmaße annimmt, wendet keine der Protagonistinnen Gewalt gegen andere an. Gewalt, die von ihnen ausgeht, richtet sich stets gegen sie selbst. Nichtsdestotrotz beinhalten alle Stücke, laut Gušić, starke Frauenfiguren, die Selbstmord und Schweigen einem Verlust von Selbstkontrolle vorziehen. Auch in der Sprache der weiblichen Figuren spiegelt sich die Ablehnung von Gewalt, da sich – abgesehen von einer Figur in Markovićs Stück – keine der weiblichen Figuren einer gewaltvollen und vulgären Sprache bedient, wohingegen die männlichen Figuren in allen Textbeispielen auf verschiedene Weise gewaltvolle Handlungen vollziehen.
Zudem arbeitet Gušić heraus, dass in keinem der Texte die Jugoslawienkriege explizit erwähnt werden, jedoch als Rahmen der jeweiligen Handlungen sowie als Ursache für die psychische Verfasstheit einzelner Figuren greifbar werden. Die geschilderte Kriegsgewalt wird stets als strukturelle Gewalt dargestellt, die auf individueller oder familiärer Ebene und vor allem in den romantischen Beziehungen zwischen den Frauen- und Männerfiguren manifest wird. Zur Frage, inwiefern die Stücke kommunikativ-versöhnliche und heilsame Elemente enthalten, kommt Gušić zu dem Ergebnis, dass sie keine Beispiele für eine gelingende Kommunikation liefern, da die Handlungen in der Darstellung von Kriegsgewalt und häuslicher Gewalt bleiben. Entwürfe für friedliche Lösungsansätze werden – wenn überhaupt – nur angedeutet. Zudem kommt Gušić zu dem Ergebnis, dass die Stücke im Kontext der Jugoslawienkriege zwar spezifisch, aber dennoch auf andere Regionen und Kriege übertragbar sind. Krieg und die daraus resultierende Zerstörung von Menschen und deren Beziehungen, die in allen Textbeispielen eindringlich zur Darstellung kommen, werden somit von geographischen und kulturellen Zusammenhängen losgelöst, wodurch die Ursachen der Konflikte und Kriege von der Herkunft oder Religionszugehörigkeit der Figuren entkoppelt werden.
Abgesehen vom verbesserungsbedürftigen Lektorat sowie einigen inhaltlichen Ungenauigkeiten – hinsichtlich der Angaben zu Oliver Frljić etwa oder bei der fehlenden Differenzierung zwischen Theaterstücken als einer literarischen Gattung und Theaterinszenierungen – gelingt es Lee Teodora Gušić mit ihrer Studie zur Triade Theater – Frauen – Jugoslawienkriege, die in den Stücken angelegte, spezifisch weibliche Sicht auf den Krieg präzise herauszuarbeiten. Innovativ und erfreulich zugleich ist zudem ihr Ansatz, Geschlecht als konstitutives Element für eine neue Theaterhistoriographie heranzuziehen und somit eine dezidiert feministische Geschichtsschreibung im Kontext von Theater und Literatur zu verfolgen.
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