Michael Betancourt: Title Sequences as Paratexts. Narrative Anticipation and Recapitulation.
New York/London: Routledge 2017. ISBN: 9781138572621. 162 Seiten, 45,00 £.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-06Abstract
Mit Title Sequences as Paratexts legt Michael Betancourt – Künstler und Spezialist für digitale Technologie und Ideologien des Kapitalismus – den dritten Band der fünfteiligen Routledge Studies in Media Theory & Practice vor.
Zum Einstieg in die Materie kann für den Begriff Paratext jene – auch vom Betancourt aufgegriffene – Definition des Literaturkritikers Gerárd Genette gelten, die der Filmtheoretiker Alexander Böhnke in seinem Buch Paratexte des Films. Über die Grenzen des filmischen Universums (erstmals 2007 erschienen) vorschlägt: Sie besagt, dass Paratexte "im unmittelbaren Umfeld des Textes situiert sind", im Fall von Literatur demnach Umschlag, Titelseite, Klappentext etc. Umgelegt auf den Film sind diskrete Elemente wie Kinoplakate, Audiokommentare, Interviews mit Filmschaffenden, Paratexte – ebenso wie Titelsequenzen, die laut Betancourt eine Art Passage in den jeweiligen Realismus des Films selbst anzeigen, mit der noch unterschieden wird zwischen vorfilmischer und diegetisierter Wirklichkeit: "Paratexts offer audiences no confusion between their role as identifier and their opposed role as part of the narrative." (S. 4) Als Paratext bekleidet die Titelsequenz im Wesentlichen vier Aufgaben: 1. Beitrag zur Bedeutung des Primärtexts, 2. Erwartungsaufbau beim Publikum, 3. Herstellung von Kontext und 4. die Beeinflussung der Rezeptionshaltung der Zuschauer_innen dem Film gegenüber (S. 25). Diese vier Funktionen der Titelsequenz – nicht zu verwechseln mit Opening Credits als reiner Informationsquelle – sind im Bestreben vereint, den/die Zuschauer*in an den Film als Haupttext zu binden, ihn/sie zu involvieren. Am besten gelingt dies, wenn das Publikum "in Stimmung gebracht wird" ["to set the mood"], so der legendäre Graphikdesigner Saul Bass – der gemeinsam mit seiner Frau Elaine Bass unter anderem für die Titelsequenzen von Martin Scorseses Goodfellas (1990), Cape Fear (1991) und Casino (1995) verantwortlich zeichnet – in einem Interview mit Pamela Haskin von 1996 (S. 25, 26). Bass spricht in diesem Interview auch von einem "metaphorical way", mit dem die Zuschauer_innen durch die Titelsequenz auf die Geschichte "konditioniert" werden. Diese zugeneigte Aufmerksamkeit erzeugt sie laut Betancourt auch durch die Enunziation, die Christian Metz – auf den sich Betancourt hier bezieht – mit seinem Schriftstellerkollegen André Gardies wiederum als "anthropomorphe Metapher" bezeichnet. Um dies zu bewerkstelligen, bedient sich die Titelsequenz unterschiedlicher Modi, die in einzelnen Kapiteln genauer analysiert werden.
Der erste Modus ist überschrieben mit "Narrative exposition" und baut im Wesentlichen auf der Beziehung von syuzhet und fabula auf – Begriffe, die Betancourt den Erzähltheorien von Vladimir Propp und Viktor Shklovsky entlehnt und die in der formalistischen Filmanalyse mit plot und story bezeichnet werden. Während der Filmtheoretiker David Bordwell – so Betancourt – die Titelsequenz als medienreflexzessive Zutat zum Film bezeichnet, die die Narration eher stört als abrundet, sieht Betancourt in ihr das Tor zur Umwandlung von story zu plot und spricht ihr damit erzählbedingende Potentiale zu. Potentiale, die auch auf einem Prinzip von Intratextualität fußen, das zusätzlich durch eventuelles Hintergrundwissen des Publikums genährt wird. Folglich ist die Titelsequenz durchaus als Teil der Erzählung zu begreifen, auch wenn sie stilistisch außerhalb dieser Erzählung stehen kann.
Der zweite, "expositionelle" Modus, ist vielgestaltig und eng verschränkt mit den Wirkweisen des narrativen Modus. Betancourt bringt hierfür die Allegorie in Anschlag, deren Lesbarkeit wiederum vom Wissen des/der Zuschauer*in bestimmt wird. Titelsequenzen, die noch nicht Ausschnitte aus dem zu Erwartbaren zeigen oder in Kombination mit den Credits bereits das Geschehen einleiten, sondern mit Stimmungsbildern für die Erzählung werben, sind dieser Kategorie zuzuordnen. Als Analysebeispiele für die allegorische Wirkweise des expositionellen Modus dienen Betancourt diverse Titelsequenzen zu James Bond-Filmen aus den 1960er Jahren, die auf Sexualisierung von weiblichen Körpern bauen, deren Anonymisierung hier vom Autor mittels seiner Ausführungen reproduziert wird. Eine kritische Lesart wäre erfrischend gewesen.
Modus No. 3 – "The Comment Mode" – leitet die Erzählung eines Films indirekt ein, indem er Erwartungen weckt, Kernthemen der Erzählung aufwirft, die Schauspieler*innen präsentiert, allerdings noch keine Kontextualisierung zum Haupttext vornimmt: "The Comment Mode is a discursive presentation about the subject matter of the narrative, but devoid of its events" (S. 80), die noch folgen werden und für die der/die Zuschauer*in ein Gespür entwickeln soll, das Betancourt mit dem Begriff "narrative futurity" ausweist.
Der vierte Modus – "The Summary Mode" –, ist jener, der durch Preisgabe narrativ relevanter Bausteine auf den ersten Blick beinahe wie ein Spoiler agiert, bei näherer Betrachtung diesen Status allerdings gar nicht einnehmen kann, fehlen zum Zeitpunkt der Einblendung der Titelsequenz doch noch wesentliche Informationen.
Mit dem fünften Modus, den Betancourt als prologisch charakterisiert, stellt sich die Narration schließlich bereits deutlicher in den Vordergrund als beispielsweise Credits, inhaltliche Andeutungen, eine zögerliche oder bewusst unleserliche Aufdeckung inhaltlicher Erzählbausteine, deren Zusammensetzung mit Fortschreiten des Haupttexts Sinn ergeben werden.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die fünf bezeichneten Modi, mit denen die Titelsequenz als Paratext Einfluss auf die Wahrnehmung der Zuschauer*innen nimmt, in der ihnen eigenen Bedeutungsformation Überschneidungen aufweisen und Abgrenzungen, die der Autor vornimmt, nicht immer ganz klar oder notwendig scheinen. Betancourts Buch ist ein Einstiegswerk, das unter Zuhilfenahme einschlägiger Theorien – Michel Foucault zur Herrschaft des Visuellen, Gérard Genette zur Definition von Paratext, Umberto Eco zu den "Grenzen der Interpretation", Vladimir Propp, Viktor Shklovsky und David Bordwell zur Theorie des Erzählens – die Funktionen der Titelsequenz als Paratext des Films anhand kanonisierter Beispiele des klassischen Hollywood-Kinos anschaulich untersucht. Vermissen lässt sich die Schneise zur Avantgarde, die der Autor als ästhetisches Gestaltungsmittel der Titelsequenz stellenweise erwähnt, allerdings nie so richtig ausführt, was es mit ihr auf sich haben könnte.
Als Ergänzung zu den im Buch abgedruckten Filmstills sei die wunderbare Website https://www.artofthetitle.com/ empfohlen.
Literatur:
Art of the Title: https://www.artofthetitle.com/.
Böhnke, Alexander: Paratexte des Films. Über die Grenze des filmischen Universums. transcript: Bielefeld 2007.
Haskin, Pamela & Saul Bass: "’Saul, can you make me a title?’ Interview with Saul Bass". In: Film Quarterly, Vol. 50, No. 1 (Autumn, 1996), pp. 10-17.
Metz, Christian: Die anthropoide Enunziation. In: montage a/v 3/1/1994, S. 11-38.
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