Ingrid Hentschel (Hg.): Die Kunst der Gabe. Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis.
Bielefeld: transcript 2019. ISBN: 978-3-8376-4021-2. 310 S., Preis: € 29,99.
Abstract
Acht Jahre nach der Veröffentlichung von Im Modus der Gabe/In the Mode of Giving. Theater, Kunst, Performance in der Gegenwart/Theater, Art, Performance in the Present (hrsg. v. Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke und Klaus Hoffmann)[1] ist nun mit Die Kunst der Gabe. Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis ein Folgeband erschienen. Als Ausgangspunkt diente ein Symposium mit dem Titel Theatre as Exchange and Gift, das im Oktober 2017 am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattfand.
Gegenwärtiges Theater kann als Geschenk veranschlagt werden, weil es sich laut Herausgeberin Ingrid Hentschel immer stärker durch "Partizipation, Austausch und Wechselseitigkeit" (S. 9) auszeichnet – obligatorische Charakteristika der Gabe. Um sich dieser ereignishaften Reziprozität zu nähern, richtet der vorliegende Sammelband multiperspektivisch einen ganzen Fragenkatalog an die gabenhaften Qualitäten des Theaters, bemüht sich um die Kontextualisierung von Theorien des Tausches mit Theatertheorien, wobei der Theaterbegriff durch "Prozess, Interaktion, Handlung" (S.11) definiert wird und die Austragungsformate des Theaters großzügig ausgelegt werden. Dies wirft Themenfelder auf, die den Austausch zwischen Darsteller_innen und Zuschauer_innen gleichermaßen betreffen wie die im Untertitel des Bandes postulierte "Autonomie und soziale Verpflichtung der künstlerischen Gabe" (S. 8) und ihr Risikopotential. Es wird analysiert, woraus sich die Gabe des Theaters überhaupt speist und ob Wahrnehmung und Aufnahme der sinnlichen Appellationen nicht bereits ein "neuerliches Geben" (S. 7) vonseiten des Publikums gewährleisten. Hentschel formuliert einleitend denn auch eine der großen, generellen Fragen im Zusammenhang mit der reziprok angelegten Wirkungsmacht der Gabe, nämlich, ob der Austausch zu ihr gehört oder ob er sie eliminiert (ebd.). Marcel Mauss, dessen Essai sur le don (1924) wie beim ersten Band auch hier wieder als eine der diskursiven Vorlagen für die Auseinandersetzung mit der Gabe dient, würde letzteres wahrscheinlich verneinen – zumindest, solange die Endlichkeit eines Hin- und Herschenkens und des sich gegenseitig Übertrumpfens zwischen zwei Instanzen möglichst hinausgezögert wird. In Anlehnung an Mauss' Theorien ist einer der wichtigsten Aspekte in der Auseinandersetzung mit der Gabe, wie sie der vorliegende Sammelband vornimmt, das nichtkommodifizierbare Potential, das das Geschenk kapitalistisch intendierten Kreisläufen entzieht und als Geste der bedingungslosen Großzügigkeit begreifen möchte. Theater, so Hentschel, ist das Spannungsfeld, auf dem das Verhältnis aus "freiwilligem Geben und sozialer Verpflichtung" (S. 12) stetig austariert wird.
Die Kunst der Gabe teilt die trans- und interdisziplinären Beiträge zur Gabenförmigkeit des Theaters in vier große Überkapitel: "Theater, Kunst und Gabe: Theoretische Konstellationen" (Kapitel 1) eröffnet mit einem Beitrag von Marcel Hénaff, Philosoph und Ethnologe, der drei Formen des Gebens unterscheidet, die das Theater zu bieten hat: das zeremoniell choreographierte Geschenk (unbedingt auf ein Publikum angewiesen), das bedingungslose Geschenk (ein Beweis der Zuneigung) und das solidarische Geschenk (die Spende). Hénaff knüpft vor allem an die Gabe coram publico die Frage, wie Theater als Spielfeld für Möglichkeitsszenarien in die Realität hineinarbeitet.
Roger Sansi, Sozialanthropologe, versucht herauszufinden, ob es das reine Geschenk gibt, eine Gabe also, die nicht auf – ausgesprochenen oder still vereinbarten – Verträgen beruht. Den Versuch einer Antwort unternimmt Sansi mit Roger Bernats "The Place of the Thing", einer Arbeit für die documenta 14 (2017), in deren Zentrum die Kopie eines Schwursteines steht, der durch die Öffentlichkeit von Athen nach Kassel bewegt wird – eine Unternehmung, die unvorhersehbare Wege einschlug und damit Bernat seine entlarvende Positionierung in puncto künstlerischer Autor_innenschaft abzwang, obwohl das Projekt prädestiniert dazu gewesen wäre, diese für nichtig zu erklären.
Der Philosoph Gerhard Stamer ergänzt mit seinem Beitrag die Zusammenführung von Theater und Gabentheorien mittels Kants Definition von Ästhetik als emotionsstiftender Zweckmäßigkeit, die – wie das Theater – auf Mitteilung drängt (S. 71).
Das zweite Kapitel "Tausch und/oder Gabe" versammelt vier Beiträge, die "Gabentheoretische Positionen" – so der Untertitel – auseinandersetzen. Ausgehend von Marcel Mauss stellt der Soziologe Frank Adloff die These auf, dass Gaben einen Moment der Asymmetrie zwischen Schenkendem_r und Beschenktem_r herstellen, der oftmals von Agonie geprägt ist. Geschenke – so Adloff – sind als "Momente des Überschusses und der Unbedingtheit […] konstitutiv für das Hervorbringen von Sozialität" (S. 91), demnach unabdingbar für unser aller Zusammenleben und eine ästhetische Qualität ist ihnen inhärent, die prägt, wie wir miteinander leben (wollen).
Olli Pyythinen – ebenfalls Soziologe – bezieht seine Ausführungen dezidiert auf das Theater und zieht Jacques Derrida und Georg Simmel heran, um die Schenkungsleistung von Schauspieler_innen unter die gabentheoretische Lupe zu nehmen. An wen richtet sie sich? An die Gemeinschaft oder an den_die Einzelne_n? Und wie definiert sich über die Antwort auf diese Fragen der bindende oder unverbindliche Gestus der Gabe des Schauspiels?
Dass die Gabe nicht immer eine festgestellte, körperliche Präsenz aufweisen muss, arbeitet die Kultursoziologin Elfie Miklautz in ihrem Beitrag heraus, der sich "illusionären Gaben" widmet. Um ihrem Wirken auf die Spur zu kommen, analysiert Miklautz Weihnachten als das Fest der Bescherung und gesellschaftliches Spielfeld, auf dem Wunsch und Wirklichkeit sich aneinander reiben.
Im abschließenden Aufsatz dieses Blocks untersucht die Gabenforschungsexpertin Ilana F. Silber anhand von Clifford Geertz' Essay "Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight" (erstmals 1972) die Theatralität des öffentlichen Schenkens von prominenten Großspendern wie Bill Gates und Warren Buffet, die ihre Gabe öffentlichkeitswirksam nutzen, um Größe zu demonstrieren.
Kapitel Nummer 3 entwickelt unter dem Titel "Resonanz und Performance" dezidiert theatertheoretische Konzepte zur Gabe. Der Theaterwissenschaftler Jens Roselt reflektiert in seinem Text über "Formen und Verfahren von Teilhabe im Theater, die Theatererfahrung auf der prekären Schwelle von Zutrauen und Zumutung verorten" (S. 152). Um die Bedeutung dieses schmalen Grats zwischen Hingabe und Abstoßung genauer zu bestimmen, erinnert sich Roselt an die Publikumsreaktionen in einer Aufführung der Zeppelin-Inszenierung (Horváth-Texte) an der Berliner Schaubühne unter der Regie von Herbert Fritsch (ab 2017), die sich unter anderem durch Irritation und Unzufriedenheit auszeichneten.
Auch Ortrud Gutjahr, Literatur- und Medienwissenschaftlerin, geht in ihrem Aufsatz der Frage nach, wie sich Figuren auf der Bühne und Publikum zueinander verhalten, wenn die Darsteller_innen nicht liefern, was qua einer konventionellen Auffassung von Theater von ihnen erwartet wird (Aktion, schön Sprechen). Anders als Roselt geht Gutjahr aber nicht von einem Unsicherheitsmoment aus, den die Regie in Zusammenarbeit mit den Schauspieler_innen verantwortet, sondern von der Publikumsbeschimpfung Peter Handkes, der anlässlich des ihm zuerkannten Literaturnobelpreises 2019 die Beleidigungen nun eher an Journalist_innen richtet. Außerdem liefert Gutjahr in ihrem Beitrag einen patenten Überblick über theaterwissenschaftliche Positionen zum Publikum, der von Aristoteles über Diderot und Brecht bis hin zu Hilde Haider-Pregler reicht.
Die Bildungswissenschaftlerin Kristin Westphal arbeitet mit Überlegungen zu Milo Raus Five Easy Pieces heraus, wie Kinder mit einer unverstellten Mitteilsamkeit in einem Stück für Erwachsene deren Lebenswelt verhandeln und ihnen vor Augen führen, was sie anrichten – Rau hat für sein Stück den Fall des Kindsmörders und Sexualtäters Marc Dutroux als Vorlage gewählt. Westphal spricht diesem spiegelnden Spiel der Kinder den Charakter einer Nicht-Gabe zu, die in aller Härte mit den Möglichkeiten und Mitteln des Theaters überreicht wird.
Der Germanist Gert Hofmann beschließt das dritte Kapitel mit einer Kontextualisierung des Facettenreichtums der Gabe mit Nietzsches und Artauds Theorien zur Maske und deren wechselhaftem Charakter aus An- und Abwesenheit, dem Menschlichen und Göttlichen, Leben und Tod.
"Überschreitungen: Politiken der Gabe" lautet die Überschrift des letzten Kapitels, in dem das radikale Potential von Reziprozität als Aktionsstachel herausgearbeitet wird. Asma Diakité, Kulturwissenschaftlerin mit Performance-Schwerpunkt, stellt in ihrem Beitrag die Frage, inwieweit Theater und Performance als erschöpfende Praxis in Zeiten politischer Umbrüche ästhetisches Potential aufweist. Als Gegenstand für die Verhandlung dieser Frage wählt sie Aktionen rund um den Tahrirplatz, der 2011 als eine der wichtigsten Bühnen der "ägyptische[n] Revolte" (S. 226) fungierte.
Der Konvivialismus als "postdekonstruktive, neohumanistische Rückkehr zu Marcel Mauss' bündnispolitischer Figur des Kooperierens" (S. 245) ist Thema im Aufsatz der Theaterwissenschaftlerin Evelyn Annuß. Sie zeigt auf, wie dieses Konzept durch die vorsätzliche und auch unvorhersehbare Raumnahme von öffentlichen Orten wie Brache und Theaterhaus erprobt und erkämpft wird. Als Beispiel dienen Annuß eine Inszenierung des theatercombinats unter der Leitung von Claudia Bosse und Protestaktionen im Zuge der neu zu besetzenden Intendanz der Volksbühne im Jahr 2017.
Ob das Nichtstun eine Gabe sein kann, fragt Hanne Seitz, Expertin für Theorie und Praxis ästhetischer Bildung, in ihrem Beitrag und arbeitet die produktiven Aspekte von Langeweile im Sinne eines umfassenden Sichzeitlassens und "von sich absehen" (S. 270) anhand ausgewählter Performances von Xavier Le Roy, Tino Sehgal und Marina Abramović heraus.
Der Medien- und Kulturwissenschaftler Reinhold Görling nimmt Darren Aronofskys Film Mother! (US 2017) zum Anlass, um über Opfer und Gabe als ästhetische Topoi der Überschreitung im Film zu reflektieren und das Kino als Ort der Hervorbringung (von Körpern, Begehren, Gewalt) zu begreifen.
Im finalen Beitrag des Bandes beschreibt der Theaterwissenschaftler Anton Rey die Wirkmechanismen eines Beichtstuhls, in dem der_die Besucher_in mit sich selbst als Gegenüber konfrontiert wird und den er gemeinsam mit einem Team als künstlerische Intervention an der Zürcher Hochschule der Künste installiert hat.
Zusammenfassend vereint Die Kunst der Gabe – wie bereits der Modus der Gabe – ein Spektrum an Beiträgen, in denen zentrale Thesen der Gabenforschung mit Blick auf die Theater- und Performancekunst weitergedacht und erweitert werden. Das Theater als Ausgangsmoment für diese Theoretisierungen zu wählen, ist schlüssig, weil Theater der Ort ist, an dem politische wie gesellschaftliche, begehrenswerte wie irritierende Versuchsanordnungen den Ernst des Lebens als Geschenk praktizieren, mit Leichtigkeit und Schwere, disziplinierend und außer sich geratend.
Dieses Buch richtet sich an alle, die das Interesse am theoretischen Blick auf die Lust an Spiel, das Risiko und die Gemeinschaft als Gebendes teilen.
[1] Der Band wurde in rezens.tfm Nr. 2012/1 besprochen: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r239.
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