Daisy Yan Du: Chinese Animation and Socialism. From Animators' Perspectives.
Paderborn: Brill 2021. (Reihe: China Studies 43). ISBN: 978-90-04-49959-1. 299 Seiten, 127,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-06Abstract
"[...] we were required to criticize feudalism, capitalism, revisionism, kittens, puppies, and Disney [...]" (S. 239). So charakterisiert der Drehbuchautor Fung Yuk Song die Direktive an das Shanghai Animation Film Studio zu Zeiten der Kulturrevolution und bringt damit eine Marschrichtung auf den Punkt, der in der Geschichte des chinesischen Animationsfilms nicht immer gefolgt wurde. Davon zeugt Chinese Animation and Socialism. From Animators' Perspectives, herausgegeben von der Animationsfilmforscherin Daisy Yan Du. Der Band basiert auf einer Konferenz, die im April 2017 an der Hong Kong University of Science and Technology (HKUST) stattgefunden hat. Anlass für diese Konferenz war der 60. Geburtstag des Shanghai Animation Film Studio (SAFS), seines Zeichens die prägendste Trickfilmstätte des Landes, deren ehemalige Mitarbeiter*innen – und das ist das wirklich Besondere an Dus Buch – hier zu Wort kommen. Sie lassen ihre Erinnerungen Revue passieren und die Zusammenschau der Beiträge gibt so ein recht umfassendes Bild der Entwicklung des Animationsfilms in China, der, Jahrzehnte bevor Japan die Königsposition in dieser Filmgattung für sich beanspruchen konnte, Pionier*innenarbeit leistet.
Die verschriftlichten Vorträge liegen in englischer Übersetzung vor, Du hat sie zu sieben großen Kapiteln zusammengeschlossen, die sich mit folgenden Aspekten des Animationsfilms in China auseinandersetzen: die Hochzeit der sozialistischen Animation; der Übergang zur postsozialistischen Ära; Sound im chinesischen Animationsfilm; Drehbuch. Kapitel 5 widmet sich ausgewählten Animationskünstler*innen (in der Diktion des Buchs jenen, "die nicht vergessen werden sollen"), ein weiteres Kapitel beleuchtet den Zusammenhang zwischen Politik und Animationsfilm, und zum Abschluss wird noch ein Blick auf den Einfluss geworfen, den der chinesische auf den japanischen Animationsfilm hatte. Daisy Yan Du legt damit nach eigener Aussage das erste englischsprachige Buch vor, in dem nicht nur Filmwissenschaftler*innen über die Materie schreiben, sondern die Protagonist*innen des goldenen Zeitalters der chinesischen Animation selbst über ihre Arbeit sprechen. Einige von ihnen waren über Jahrzehnte hinweg Kolleg*innen, sie haben als Regisseur*innen, Drehbuchautoren, Kameramänner*frauen, in der Produktion, als Voice Artists und Komponisten gearbeitet. Viele Beiträge im Buch sind anekdotisch angelegt, es gibt sich überschneidende Eindrücke, und einige Wortmeldungen, die – meist in dezenten Zwischentönen, seltener explizit – nicht nur ein Loblied auf die politische Atmosphäre anstimmen, in der die Kreativität teils rigorosen Vorstellungen der Machthabenden untergeordnet war. Dass eine kollektivistische Arbeitsweise nicht nur das ideologische Plansoll erfüllt, sondern auch prädestiniert ist, Kritik in die Filme einzubauen, versteht sich dabei von selbst. Und dass es – bereits vor Mao – hieß, Animationsfilm ist Kinderfilm, war ein weiterer Umstand, der einer zurückhaltenden Unterwanderung Tür und Tor öffnete.
Eine weitere wichtige Dimension, die Dus Konferenzband zutage fördert, ist der wesentliche Beitrag von Frauen zur chinesischen Animationsfilmgeschichte, allen voran Chen Bo'er, Schauspielerin und Regisseurin, die mit The Dream to be an Emperor (皇帝梦, 1947) einen bissigen Puppentrickfilm vorlegt, der sich über die Kuomintang lustig macht.1 Damals war die Animationsfilmproduktion noch nicht zentralisiert, erst in den 1950er Jahren entsteht durch die Zusammenlegung mehrerer Filmdivisionen das SAFS. Der historische Abriss, mit dem die Herausgeberin das Buch einleitet, bildet eine wichtige Grundlage, sich in der politischen Geschichte Chinas zu orientieren und erweckt so in der Leserin gleichzeitig die produktive Ahnung, dass eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Materie ansteht.
Was aus den Beiträgen der Filmemacher*innen sehr klar hervorgeht, ist der ideologische Nachdruck, unter dem die Animation als Kulturdisziplin identitätsstiftend für China wirken sollte. Die Entwicklung eines nationalen Stils und – später zu Zeiten der Kulturrevolution – dem sozialistischen Regime gefälliger Propaganda standen in der Liste der zu erreichenden Ziele ganz oben. Diesen nationalen Stil beschreiben die Beiträger*innen als eine Ästhetik, die folkloristisch geprägt und vordergründig apolitisch wirken sollte. Keinesfalls durfte der Westen Einfluss nehmen auf die Herausbildung dieses unverkennbaren Stils. Dass sich die Vertreter*innen des Regimes noch so wünschen konnten, ihre Vorstellungen zur vollsten Zufriedenheit umgesetzt zu wissen, ohne die Arbeit der Ausführenden ganz bestimmen zu können, belegt zum Beispiel der Aufsatz des Filmkomponisten Jin Fuzai. Seit 1967 beim SAFS engagiert, berichtet er, wie sehr ihn die Scores der Disney-Filme inspiriert haben. Jin komponiert auch die Musik zu A Das und Lin Wenxiaos One Night at the Art Studio (画廊一夜, 1978), einem Film, der die gewalttätige Vorgangsweise der Gang of Four gegen progressive Kunst in China satirisch aufarbeitet.
Manchmal geben die Filmarbeiter*innen auch rührend Auskunft über ihr Scheitern. So zum Beispiel der Drehbuchautor Ling Shu, der im Winter 1975 damit beauftragt wurde, das Drehbuch für ein Remake von Heroic Little Sisters of Grassland (草原英雄小姐妹, 1964, unter der Regie von Cheng Tang und Yunda Quian) zu verfassen. Tang und Quian sollten auch diesmal Regie führen, also zogen sie gemeinsam mit Ling in die mongolische Steppe, um sich mit dem Leben der Menschen dort vertraut zu machen. Ling hütete Schafe und fror, doch setzte ihm die Kälte nicht am meisten zu. Vielmehr schildert er mit Nachdruck die Verzweiflung über den Auftrag, eine Geschichte zu adaptieren, in der zwei kleinen Mädchen im Zuge des Klassenkampfs die Gliedmaßen abfrieren. Sein Drehbuch blieb unvollendet.
Das Bemerkenswerte an dem vorliegenden, von Daisy Du herausgegebenen Buch, ist der sich mit jedem Beitrag verdichtende Eindruck einer Zeit in China, in der eine Gruppe von Filmarbeiter*innen mit Lust und Schaffensdrang diverse Stadien politischer Entwicklungen an sich vorüberziehen lässt, um unter Berufung auf ein Körnchen Eigensinn ihrer Arbeit nachzugehen – allen Repressalien zum Trotz. Entsprechend wichtig ist auch der Hinweis von Du gleich zu Beginn ihrer Einleitung, dass die Dämonisierung Chinas im Westen nicht allein mit China zu tun hat, sondern mit einer orientalistischen Projektion des Anderen. Nicht jeder chinesische Film war und ist propagandistisch.
Anmerkungen:
1 Zur weiterführenden Lektüre wärmstens empfohlen: Zheng, Wang: Finding women in the state. A socialist feminist revolution in the People's Republic of China, 1949 – 1964. Oakland: University of California Press 2017.
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