Peter Sprengel und Gregor Streim: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik.
Mit einem Beitrag von Barbara Noth. Wien u.a.: Böhlau 1998 (Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur. 45). 718 S. m. 22 Abb. Kartoniert. ISBN 3-205-98766-7. Preis: ATS 1022,-/DM 140,-/sFr 124,-.
Abstract
Seit Carl E. Schorskes Fin-de-siècle Vienna 1980 erschienen ist, boomt die Forschung zur Wiener Jahrhundertwende - vorzugsweise zu Kunst und Kultur dieser Epoche. Dabei wird nicht selten von einer ganz besonderen Stimmungslage, einer außergewöhnlichen Situation in der Hauptstadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ausgegangen. Seit kürzerem existieren auch Forschungen zur Berliner Jahrhundertwende, die allerdings von gänzlich anderen Bedingungen auszugehen scheinen, als es für Wien der Fall ist. Die beiden Städte geraten in diesen Publikationen in einen Gegensatz, der sich vor allem in der vermeintlichen Unterschiedlichkeit der Modernität der beiden darstellt: Berlin als Moloch der Arbeit und Geschwindigkeit, Wien als Zentrum einer neuen "Seelenkunst". Hier die Entwicklung der Psychoanalyse, der Jugendstil, die jungen Schriftsteller wie Schnitzler und Hofmannsthal; dort Naturalismus, Expressionismus, rasendes Tempo. Diese Zuschreibungen sind keineswegs neu, sie stammen samt und sonders aus der Zeit selbst. Den damals konstruierten Gegensatz verfolgen Peter Sprengel und Gregor Streim in ihrem Buch zurück, zeigen die eingenommenen Positionen als vielseitig einsetzbare, die von verschiedenen Personen zu den verschiedensten Zwecken verwendet werden.
So beschäftigt sich ein Kapitel mit den Vermittlerpersonen, die gleichzeitig auch immer mit diesen Städte-Bildern gearbeitet haben; eine besondere Rolle spielt hier Hermann Bahr, der insbesondere das Berliner Wien-Bild geprägt hat und nicht zuletzt als "Erfinder" des Begriffs "Jung-Wien" gilt. Auch Karl Kraus und Otto Brahm werden eigene Kapitel zu ihrer Vermittlungstätigkeit gewidmet.
Bei alledem stehen aber stets nicht die konkreten Städte Wien und Berlin im Mittelpunkt, sondern die Stadt-Bilder, die Stadt-Imagos, die in den Köpfen, in Publikationen, in Briefen vorherrschen; und zwar sowohl die Selbst- als auch die Fremd-Bilder - in ihrer jeweiligen Wechselseitigkeit. Bei diesen Bildern geht es auch und vor allem um die Frage, wie die Moderne zu definieren ist: Welche Strömungen in den verschiedenen Bereichen der Kunst sind aus welchen Gründen als modern anzusehen? Wo werden verstaubte Hüte geortet? Mit welchen Argumenten wird bestimmten Richtungen neben der "Modernität" auch gleich jeglicher "Wert" abgesprochen?
Die Lücken in der Forschung bezüglich der gegenseitigen Beziehungen aufzuklären ist dabei erklärtes Ziel der Autoren. Dieses Interesse zeigt sich auch im 66 Seiten starken dokumentarischen Anhang, der Briefe und Materialien zu den verschiedensten Wien-Berlin-Vorgängen versammelt.
Dementsprechend ergeben sich zwei Schwerpunkte, die bereits im Untertitel Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik anklingen: die persönlichen Beziehungen einzelner Personen und Institutionen einerseits, wie Begegnungen, Veröffentlichungen, Aufführungen, Briefe, Zusammenarbeit gerade auf dem Theatersektor (Aufführungen Wiener Autoren in Berlin und umgekehrt); andererseits die Verwendung der Stadt-Bilder, der jeweiligen "Entwürfe der Moderne". Das Buch stellt also sowohl eine Bestandsaufnahme und Untersuchung der "hard facts" dar - Wer hat wann wo mit wem worüber wie zusammengearbeitet? - als auch den Nachvollzug eines Diskurses über "Moderne" überhaupt.
Berliner und Wiener Moderne ist somit ein praktisches Nachschlagewerk, wie auch ein 700-Seiten-Lesebuch zur Entwicklung einer Diskussion, die bis heute nicht abgerissen ist.
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