Hans-Michael Bock/Wolfgang Jacobsen/Jörg Schöning/Jan Distelmeyer (Hg.), Babylon in FilmEuropa. Mehrsprachen-Versionen der 1930er Jahre.

Hamburg: edition text+kritik 2006. (Reihe: CineGraph Buch) ISBN 3-88377-838-9. 189 S. Preis: € 21,-.

Autor/innen

  • Katharina Wessely

Abstract

Mit der Einführung des Tonfilms tauchte für Produzenten und Studios die Frage auf, wie die internationale Verwertbarkeit eines teuer hergestellten Films trotz der Sprachbarrieren weiter gewährleistet werden könnte. Heute erscheint die Filmsynchronisation als logische und quasi selbstverständliche Übersetzung des Films von einer Sprache in eine andere – damals war dies allerdings ganz und gar nicht selbstverständlich.

Neben der anfänglich wenig akzeptierten Synchronisation und der auch heute noch gebräuchlichen Untertitelung spielten die Mehrsprachenversionen zu Beginn des Tonfilms eine große Rolle, also Versionen eines Filmes, in denen Teile des gedrehten Materials übernommen, andere Teile mit neuen SchauspielerInnen neu gedreht wurden. Alle diese Verfahren existierten wiederum in unterschiedlichen technischen Varianten. Die Vielfältigkeit der Methoden liegt dabei auch darin begründet, dass noch nicht festgelegt war, was genau "übersetzt" werden sollte: lediglich die Sprache, also der Inhalt der einzelnen Sätze, oder auch der Tonfall, der Dialekt, die Stimmung, die Bedeutung, die diese im nationalen Kontext haben? Diese unterschiedlichen Zugänge lassen sich an den Mehrsprachenversionen (MLV) besonders gut herausarbeiten, da in diesen alle Entscheidungen jedesmal neu getroffen werden müssen und die verschiedenen Versionen eines Films in unterschiedlichem Grad von einander variieren.

Der vom Hamburger Centrum für Filmforschung herausgegebene text+kritik-Band enthält Beiträge, die anlässlich des 18. Internationalen Filmhistorischen Kongresses "FilmEuropa - Babylon. Mehrsprachenversionen der 1930er Jahre in Europa" in Hamburg gehalten wurden. Die Bandbreite der Texte reicht von theoretischen Fragestellungen bis zu einzelnen Fallstudien, einen Schwerpunkt bildet dabei die Tschechoslowakei, die als mehrsprachiges Land einen Sonderfall in der Geschichte der Mehrsprachenversionen darstellt. Die Beiträge sind jeweils zu verschiedenen Themenkomplexen zusammengefasst, die den Konferenzpanels entsprechen – diese Einteilung ist leider nur in der Kopfzeile zu sehen und wird weder im Inhaltsverzeichnis angegeben, was die Orientierung auf den ersten Blick erleichtern würde, noch von den Texten reflektiert. Die dabei behandelten Themen sind: "Geschichte und Theorie", "Europäische Vernetzungen", "Schwerpunkt Tschechoslowakei", "Musik und MLV", "Globale Motive", "Nationale Motivationen", "Fallstudien". Die Zuordnung der Texte zu den Themenkomplexen ist dabei nicht immer ganz schlüssig, so finden sich beispielsweise drei Texte, die sich mit Musikfilmen international bekannter Stars beschäftigen (Francesco Bono über Beniamino Gigli, Geoff Brown über Joseph Schmidt und Daniel Otto über Imperia Argentina in drei verschiedenen Rubriken wieder ("Europäische Vernetzungen", "Musik und MLV", "Fallstudien"), obwohl der Zugang der Autoren so unterschiedlich nicht ist. Möglicherweise ist es eben dieser Schwierigkeit der Zuordnung zuzuschreiben, dass der Band nicht in Kapitel eingeteilt wurde, sondern die Beiträge nur durch die Überschrift in der Kopfzeile lose miteinander verbunden sind.

In der Rubrik "Geschichte und Theorie" befasst sich Joseph Garncarz mit der "Suche nach optimalen Übersetzungsverfahren" (Untertitel, Sprachversion, Synchronisation), Leonardo Quaresima beleuchtet die zeitgenössischen Debatten um die verschiedensten Techniken, Tonfilme in unterschiedlichen Sprachen verständlich zu machen, sowie die generellen Fragen, die der neue Tonfilm aufgeworfen hat. Das Panel "Europäische Vernetzungen" beinhaltet einen Text von Francesco Bono, der sich mit der politisch motivierten Zusammenarbeit des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands am Filmsektor beschäftigt, sowie zwei Beiträge zu den Joinville-Studios bei Paris, wo Paramount seine europäischen MLVs drehte: Anna Sofia Rossholm behandelt die Adaption des Marseille-Films Marius für das schwedische Publikum und die Bedingungen seiner Rezeption in Schweden, während Nataša Durovičová die Joinville-Produktionen in einem größeren Kontext betrachtet. Unter dem Übertitel "Globale Motive, nationale Motivationen" beschäftigt sich Horst Claus mit der Frage "Warum die Ufa lieber französische als englische Versionen dreht" und zeigt dabei die finanziellen Erwägungen der Ufa auf, während Chris Wahl das "Zusammenspiel von globalen und lokalen Elementen" anhand dreier Versionen eines Films untersucht. Unter der selbsterklärenden Subsumierung "Fallstudien", die allerdings auf alle anderen Texte dieses Bandes genauso zutrifft, analysiert Daniel Otto politisch motivierte MLVs zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem frankistischen Spanien, und Jörg Schöning zeigt an SOS Eisberg auf, wie in der amerikanischen Version eine Verschiebung der Zeitebene stattfindet.

Der Schwerpunkt Tschechoslowakei verdeutlicht die etwas anders gelagerte Problemstellung bei einem mehrsprachigen, von ethnischen Konflikten geprägten Land – hier ist die Frage nach deutschen oder tschechischen Filmen stets mit Politik verknüpft. Petr Szczepanik zeigt in seinem Text "'Tief in einem deutschen Einflussbereich'. Die Aufführung und Rezeption deutschsprachiger Filme in der Tschechoslowakei in den frühen 1930er Jahren" die Diskrepanz zwischen der populären Aufnahme deutschsprachiger Filme bei der tschechischen Bevölkerung einerseits und ihrer negativen Bewertung durch die Politik andererseits. Auch die unterschiedliche Rezeption deutschsprachiger Originale und deutscher Versionen anderssprachiger Filme arbeitet er heraus: Während Filme mit deutscher Originalsprache gut aufgenommen wurden, wurden nicht-tschechoslowakische Versionen ausländischer Filme bald verboten. Aufgrund der in der Tschechoslowakei weit verbreiteten Deutschkenntnisse hatten die Filmkonzerne hier aus finanziellen Gründen anfangs deutschsprachige Versionen von beispielsweise englischen oder französischen Originalen auf den Markt gebracht, anstatt diese tschechisch zu untertiteln oder im Original zu zeigen. Dies wurde, im Gegensatz zu den deutschsprachigen Originalfassungen, als Einordnung in den deutschen Sprachraum gesehen, die man nicht akzeptieren wollte.

Ivan Klimeš und Pavel Zeman siedeln ihren Beitrag zum Ende der Ersten Republik an. "Aktualita. Tschechoslowakische Tonbildschauen 1937-1938" konzentriert sich auf den Versuch des tschechischen Außenministeriums, mit Hilfe deutschsprachiger offizieller Wochenschauen die tschechoslowakischen Deutschen der Einflusssphäre der aus NS-Deutschland kommenden Wochenschauen zu entziehen, was allerdings wenig Erfolg zeitigte. Tereza Dvořáková wiederum befasst sich mit einem anderen Fall der "Version": mit der politischen Umdeutung eines Films nach einem politischen Umbruch. "Prager Barock – Barokní Praha. Karel Plickas Kulturfilm der 1940er Jahre als Grenzfall der Sprachversion" zeigt, wie dieser Film in der Protektoratszeit das "deutsche Prag", kurz nach dem Krieg den Anteil "des Volkes" ins Zentrum rückt, wobei über die identischen Bilder zwei unterschiedliche Tonspuren gelegt werden.

Die nächsten beiden Beiträge zeigen ein grundsätzliches Problem des Bandes auf: Geoff Brown ("Eurovision") und Charles O'Brien ("Versionen, Radio und Grammophon") beschäftigen sich hier von zwei sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten aus mit Musikfilmen. Während Brown einen launigen Bericht über die Gründe für Erfolg und Misserfolg von Musik-MLVs gibt, legt O'Brien eine genaue Analyse zweier Versionen der Dreigroschenoper vor, wobei er zeigt, dass deren Differenzen in der unterschiedlichen Rezeption der bereits zuvor auf Platte erhältlichen Songs begründet sind. Diese beiden vom Ansatz her kaum zu vergleichenden Texte machen deutlich, dass sich die Aufsätze in diesem Band weniger hinsichtlich ihrer Themen, als hinsichtlich ihrer Zugänge unterscheiden. Während die einen Filmanalysen vorlegen, steht bei anderen die Rezeption, bei wieder anderen die Produktion im Mittelpunkt, wobei hier wiederum manche die Arbeit der Künstler und Produzenten beim Drehen, andere die vorgelagerten Entscheidungen der Produktionsfirmen betrachten. Diese unterschiedlichen Zugänge sind dem Thema Film inhärent, allerdings hätte es sich somit angeboten, den Band nach ihnen zu strukturieren, statt nach thematischen Gesichtspunkten, die überdies in mehreren Fällen eine Zuordnung zu mehreren Themenkomplexen möglich machen. Ein weiterer Punkt, der zur tendenziellen Verwirrung der LeserInnen beiträgt, ist die Tatsache, dass mitnichten Einigkeit unter den AutorInnen darüber herrscht, was genau das Spezifikum einer Mehrsprachenversion darstellt. Einige Texte bewegen sich dabei explizit am Rande dieses Themas (Dvořáková, "Prager Barock") oder werfen neue Begriffe auf (Schöning, "MultiTimedVersion"), doch auch sonst gehen die einzelnen Texte von unterschiedlichen Definitionen aus bzw. setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Diese noch einmal zu reflektieren, sei es in einem theoretischen Teil, sei es in den Texten selbst, wäre ein wichtiger Beitrag zur Synthese der aufgeworfenen Fragen, die so etwas in der Luft hängen bleiben - Schlussfolgerungen über den Einzelfall hinaus müssen die LeserInnen selbst ziehen. Die beiden ersten Kapitel zu Geschichte und Theorie können diese Synthese naturgemäß nicht leisten, da es sich schließlich um Beiträge zur Konferenz/zum Sammelband handelt und nicht um Reflexionen über diesen. Genau diese Reflexionsebene fehlt aber dem Band als ganzem ein wenig, auch die Beiträge selbst nehmen nur in den seltensten Fällen Bezug aufeinander. Alles in allem sind das wohl Vorwürfe, die die meisten Konferenzbände betreffen, was jedoch nichts daran ändert, dass ein Konferenzband, bei dem VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen zwischen Konferenz und Publikation einen zusätzlichen Reflexionsschritt einschalten, eine wünschenswerte Sache bleibt.

Abgesehen von dieser das Thema "Konferenzsammelband" ganz grundsätzlich betreffenden Kritik jedoch bieten die hier versammelten Texte neben viel interessanter Information auch grundsätzliche Fragestellungen, die die unterschiedlichsten Forschungsrichtungen methodisch und inhaltlich zur Weiterarbeit anregen könnten.

Autor/innen-Biografie

Katharina Wessely

Studium der Theaterwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Universität Wien, promovierte mit einer Arbeit über das deutschsprachige Theater im Brünn der Zwischenkriegszeit, 2006-2009 Lektorin der Österreich-Kooperation am Institut für Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Masaryk Universität Brno. Derzeit freie Wissenschaftlerin in Basel, Lehrbeauftrage am Institut TFM der Universität Wien.

Veröffentlicht

2008-04-15

Ausgabe

Rubrik

Film