Guido Massino, Kafka, Löwy und das Jiddische Theater. "Dieses nicht niederzudrückende Feuer des Löwy".

Aus dem Italienischen von Norbert Bickert. Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld 2007. ISBN 978-3-86109-180-6. 190 S. Zahlreiche Abb. Preis: € 19,80.

Autor/innen

  • Brigitte Dalinger

Abstract

1911, in einer Lebensphase, in der sich der 28-jährige Franz Kafka intensiv mit dem Judentum und der Frage, was es bedeutet, in Prag Jude zu sein, beschäftigte, besuchte er einige Vorstellungen einer jiddischen Theatergruppe aus Lemberg. Sie spielte, wie die meisten Wandertruppen dieser Zeit, im Saal eines Kaffeehauses; man gab jiddische Dramatik in oft nicht sehr reinem Jiddisch, eher einem Gemisch aus Deutschmährisch und Jiddisch. Die Sprache war für den jungen Schriftsteller ebenso fremdartig und faszinierend wie die Welt, die sich ihm in den Vorstellungen erschloss, eine jüdische Welt, die ihm als heil und beseelt von einem "heißen" Judentum erschien. Kafkas Tagebucheintragungen belegen die Faszination des Schriftstellers durch das jiddische Theater, dessen Stücke und SchauspielerInnen, besonders Mania (Amalia) Tschissik und Jizchak Löwy.

Diese Faszination ist der Ausgangspunkt von Guido Massinos klar strukturierter Studie. Im ersten Teil wird die Begegnung Kafkas mit dem jiddischen Theater beschrieben, danach wird auf diese Theaterform im Besonderen eingegangen. In weiterer Folge werden die Beziehungen Kafkas zum "russischen Freund" Löwy sowie zur verehrten Schauspielerin Millie (Mania Tschissik) dargestellt, dabei wird auch deren Leben nachgezeichnet. Beschlossen wird er mit einem Vergleich zwischen dem "kalten" Judentum der Prager im Gegensatz zum "heißen" der Warschauer Juden. Im zweiten Teil der Studie finden sich Texte von Jizchak Löwy, die von 1916 bis in die 1930er Jahre erschienen sind, vor allem in der jiddischen Zeitung Unzer Ekspres in Warschau. Im Anhang sind teilweise erstmals publizierte Fotos von Mania Tschissik und Jizchak Löwy zu sehen.

Die Begegnung Kafkas mit dem jiddischen Theater passiert zu einer Zeit, in der der junge Schriftsteller mit seiner Existenz ringt, er ist nun drei Jahre Angestellter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, ist unglücklich und will eigentlich nur schreiben, was er aus diversen Gründen (Anerkennung durch das Elternhaus, auch Wunsch nach einer geregelten Existenz) nicht kann. Auch die Auseinandersetzung mit seinem Vater bzw. dem Elternhaus und seinem Judentum sind wichtige Konstanten dieser Lebensphase, in der er auf das jiddische Theater trifft. Anfangs glaubt Kafka in der ihm fremden Sprache – dem Jiddischen – und den ihm fremden Stückinhalten und Themen ein echtes, unverdorbenes Judentum zu erkennen, das ihn vor allem auch durch das Schauspiel anspricht: "Kafka ist beeindruckt von der ungewöhnlichen Ausdruckskraft und der professionellen Kontrolle der Gestik, der Körperhaltung, der Mimik, der Blicke und von der Meisterschaft in der Modulation der Stimme." (S. 12) In seinen Tagebucheintragungen analysiert er die aufgeführten Theatertexte sehr genau, die ihn anfangs faszinieren; bald aber bemerkt er deren teilweise sehr grob gebaute Strukturen und Figuren, und aus der wachsenden Kenntnis resultiert eine Distanzierung zum literarischen Aspekt der Aufführungen. Dennoch sind es gewisse Charakteristika und sehr spezifische Eigenheiten der jiddischen Dramatik, die in seine Texte einfließen. Massino stellt diese Einflüsse erst auf Basis von Evelyn Torton Becks Untersuchung Kafka and the Yiddish Theatre. Its impact on his work dar, nach der die Begegnung mit dem jiddischen Theater Kafkas Schreibstil nachhaltig beeinflusste. Kafka, so Torton Beck, nahm nun eine präzisere Charakterisierung der Figuren vor, beseitigte überflüssige Details, umriss die Handlung genauer und richtete die narrative Spannung auf einen Höhepunkt hin, um dann sofort abzufallen. Massino zieht weitere Parallelen zwischen jiddischen Dramen und Kafkas Texten und schreibt, dass Kafka die Eindrücke des jiddischen Theaters verwendete und unformte, "indem er sie in den Dienst seiner eigenen originellen Schöpferkraft stellte", allerdings, so betont er im Weiteren, müsse "das Problem des Einflusses der Vortragsweise und der konkreten Aufführungsmodalitäten" (S. 35) offen bleiben. Kurz geht der Autor auf die äußeren Umstände der jiddischen Aufführungen ein, etwa auf den engen Bühnenraum des Café Savoy, und er versucht die Gestik der Schauspieler zu erfassen, wie sie von Kafka und anderen Zusehern beschrieben wurde: "Sie war markant, durchdringend, nicht realistisch. Sie erinnert vielleicht an die Gestik und Mimik des Stummfilms, mit dem ein Prager Kritiker der damaligen Zeit die Jiddisch-Aufführungen wegen ihres Inhalts und ihrer formalen Struktur verglich. Tatsächlich hatte im Spiel der Lemberger Theatertruppe die Geste häufig den Vorrang gegenüber dem Wort." (S. 35)

Wie gesagt, distanzierte sich Kafka zunehmend von der literarischen Qualität der aufgeführten Dramen; was aber blieb, war die Anziehung durch die SchauspielerInnen – auf der Ebene des Darstellungsstils, aber auch auf der menschlichen Ebene, beides prägte Kafka und beeinflusste sein Werk. Laut Massino steht in der Erzählung Das Urteil (1912) die (abwesende) dunkle Figur eines "russischen Freundes" im Mittelpunkt; in manchen Wesenszügen dieser Figur wurde von Zeitgenossen die Gestalt des Jizchak Löwy gesehen, auf dessen Lebensweg und künstlerische Leistungen im Abschnitt "Der russische Freund" eingegangen wird. Löwy (auch Jacques Levi), geboren vermutlich 1882 in einem Warschauer Vorort, entstammte einem wohlhabenden und sehr gläubigen, chassidischen Elternhaus, dem er nach der Bar Mizwa entfloh, angezogen von aufgeklärten Schriften und dem Theater. Von 1905 bis in die 1930er Jahre trat er in ganz Europa mit verschiedenen Theatergruppen auf; in den 1920er Jahren wandte er sich zusehends seinen Wortkonzerten zu. Er hatte seine Schauspielkunst in einer Weise entwickelt, die seine Mitarbeit in Ensembles immer problematischer machte: "Seine mitreißende Expressivität, die Spannung, die er aufgrund der Variationsfähigkeit seines Timbres und durch den Einsatz seiner Mimik auf den Zuschauer zu übertragen verstand, konnten nur schwer mit dem Vortragsstil der Theatertruppen in Einklang gebracht werden. In dieser Eigentümlichkeit ist höchstwahrscheinlich der Grund zu sehen, warum Löwy der Erfolg der großen Schauspieler des jiddischen Theaters versagt blieb." (S. 62) Bei Kriegsbeginn war Löwy in Warschau, auch im Ghetto trat er auf; 1942 wurde er nach Treblinka abtransportiert.

Mit Löwy verband Kafka eine tiefe, wenn auch nicht unproblematische Freundschaft; fasziniert aber war er von "Millie" Mania Tschissik, deren Lebensweg ebenfalls von Massino beschrieben wird. 1881 in Polen geboren, brennt die junge Mania mit dem Schauspieler Emanuel Tschissik durch, sie spielt in verschiedenen Ensembles, überlebt in London, wo sie bis ins hohe Alter auf der (jiddischen) Bühne steht und 1976 stirbt. Kafka war auf vielfältige Weise von ihr beeindruckt, in Massinos Worten sprach ihn in ihrer Person das "Nebeneinander von Zartheit und Stärke" (S. 77) besonders an. Mania Tschissik war eine hochprofessionelle und sehr gute Schauspielerin; unklar ist bis heute, ob sie von Kafkas Verehrung für sie gewusst hat.

Am Ende des ersten Teils der Studie wird dem "kalten" Judentum der Prager das "heiße" der Warschauer Juden gegenübergestellt. Löwy erschienen die Prager Juden und die berühmte Alt-Neu-Synagoge, die eigentlich ein geistig-mystisches Zentrum sein sollte, als zu ruhig und gelassen, für ihn zeigten sich in Warschau und Prag "die beiden Seiten des zeitgenössischen Judentums: hier das glühende und rettende, dort das kalte und blutleere Judentum, hier das Leben, dort die Agonie." (S. 86) Eine Agonie, aus der Kafka sich durch die Auseinandersetzung mit dem jiddischen Theater zu befreien versuchte.

Die Schriften von Jizchak Löwy, die im zweiten Teil des Buches abgedruckt sind, bedienen sich einer sehr spezifischen Sprache, des Jiddischen mit expressionistischem Einschlag (zumindest in dieser Übersetzung, die vom Duktus her nahe am Original zu sein scheint). Deutlich werden Themenbereiche, die den Schauspieler Zeit seines Lebens beschäftigten, wie etwa seine Abkehr vom tief gläubigen Elternhaus und die Assimilation, die damit einherging. Dies wird von Löwy aber nicht analysierend beschrieben, sondern emotional und gleichzeitig ironisch. Die Abkehr vom traditionellen Judentum bedingte fast immer eine Namensänderung, eventuell nur dessen Übersetzung; in jedem Fall aber war die Namensänderung ein klares Zeichen der Assimilation, wie etwa in Löwys Text So eine Name... deutlich wird: "Tsche-Meyr ist tot! Gesegnet sei der wahre Richter! Jetzt heißt er zur Freude aller: Max. Max Nordau, Max Reinhardt, Max Lindner, alle keuschen Jungen, die vom rechten Weg abgekommen waren, hatten in jenen Zeiten die Kleidung, die Sprache und auch den Namen gewechselt. Und da hat er dasselbe getan ... Und warum gerade Max? Weil Max in der weltlichen Sprache Meyr ist ... So ist der höfliche chassidische Junge Jizchak-Meyr gestorben und hat sich in Monsieur Max verwandelt ...." (S. 102)

In anderen Texten schreibt Löwy über die Atmosphäre der 1930er Jahre, etwa über die immer stärker spürbar werdende Bedrohung durch die Nationalsozialisten. Aber auch Eindrücke aus der Kindheit und Jugend kommen zur Sprache – zu einer Sprache, die unmittelbar zu vermitteln scheint, wie diese Vorgänge im Verfasser gewirkt haben.

In Kafka, Löwy und das Jiddische Theater bietet Guido Massino eine Analyse der Einflüsse des jiddischen Theaters, der Dramatik, der SchauspielerInnen und ihrer Kunst auf Kafkas Texte, wobei sich der Autor auch auf die kaum nachzuvollziehende Kunst des Schauspiels und des Vortrags bezieht; neue Quellen und Materialen werden in die Biographien der KünstlerInnen einbezogen, auch noch unpublizierte Fotos. Im zweiten Teil der Studie finden sich zudem die in entlegenen jiddischen Blättern gedruckten, sprachlich und inhaltlich erstaunlich frischen Texte des Schauspielers Jizchak Löwy, die hier erstmals in deutscher Sprache vorliegen. Die beiden Teile des Buches ergänzen einander und bieten einen sehr gut zu lesenden und äußerst ansprechenden Beitrag zur Geschichte und Ästhetik, aber auch zum Einfluss des jiddischen Theaters auf zeitgenössische Autoren und Künstler wie etwa Franz Kafka.

Autor/innen-Biografie

Brigitte Dalinger

Freie Wissenschafterin und Lehrbeauftragte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Derzeit wissenschaftliche Aufarbeitung des "Komplex Mauerbach" am Don Juan Archiv Wien.

Studium der Theaterwissenschaft und der Geschichte in Wien; während des Studiums verschiedene Tätigkeiten im Theaterbereich. Intensive Beschäftigung mit dem Thema jüdisches Theater und Dramatik, in Zusammenhang damit Forschungsaufenthalte in Israel und den USA. Habilitation im März 2004.

Weitere Arbeitsschwerpunkte: Theater im Nationalsozialismus; Theater und Interkulturalität; Theater im 19. und 20. Jahrhundert; Amerikanische und Britische Gegenwartsdramatik.

Publikationen:

(Auswahl)

Brigitte Dalinger: 'Trauerspiele mit Gesang und Tanz.' Zur Ästhetik und Dramaturgie jüdischer Theaterstücke. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2010.

-: "Interkulturalität, Kulturtransfer und Theaterwissenschaft". In: Weltbühne Wien / World Stage Vienna. Vol. 1: Approaches to Cultural Transfer. Hg. v. Ewald Mengel/Ludwig Schnauder/Rudolf Weiss. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2010, S. 105–115.

-/Werner Hanak-Lettner (Hg.): Being Shylock. Ein Experiment am Yiddish Art Theatre New York. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien. Wien: Jüdisches Museum der Stadt Wien 2009.

-: "'Mein Vaterland ist das Volk'. Aspekte zu Figurengestaltung, Theatralität und Aktualität ausgewählter Theatertexte Ödön von Horváths". In: 'Felix Austria – Dekonstruktion eines Mythos?' Das österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Malgorzata Leyko/Artur Pelka/Karolina Prykowska-Michalak. o. O.: Litblockin 2009, S. 214–223.

-: 'Verloschene Sterne'. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Wien: Picus 1998.

Veröffentlicht

2008-04-15

Ausgabe

Rubrik

Theater