Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933-1945.
Hg. v. Frithjof Trapp, Werner Mittenzwei, Henning Rischbieter, Hansjörg Schneider. Band 1: Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler; Band 2: Biographisches Lexikon der Theaterkünstler (2 Teilbände). (München: K.G. Saur, 1999). ISBN 3-598-11373-0. Preis: ATS 5431,-/DM 744,- /SFR 662,-
Abstract
Ergebnisse einer "Suche in einem Scherbenhaufen". - Zum "Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933–1945"
Im Frühjahr dieses Jahres erschien im Münchner K.G. Saur Verlag das umfangreiche Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933-1945, herausgegeben von Frithjof Trapp, Werner Mittenzwei, Henning Rischbieter und Hansjörg Schneider. Das Handbuch besteht aus zwei Teilen, die in drei Bänden vorliegen. Der erste Teil (und 1. Band) trägt den Titel Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler, der zweite Teil ist ein Biographisches Lexikon der Theaterkünstler, das zwei Teilbände umfaßt und rund 4000 Biographien enthält
Die Idee zu einem Buch über deutschsprachiges Exiltheater entstand schon Anfang der siebziger Jahre an der "Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur"; unter völlig veränderten politischen Bedingungen wurde sie 1990, anläßlich einer Tagung in Hamburg, wieder aufgenommen. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten über Exiltheater finden sich hier Themen wie "Auf Abruf" - Das Theater des Jüdischen Kulturbundes im "Dritten Reich" 1933 – 1941 (von Herbert Freeden) oder eine Analyse über Österreichs Rolle als Asylland bis 1938 (Exilland Österreich von Hilde Haider-Pregler). Nach einer ausführlichen Beschreibung der Verfolgung und Vertreibung deutscher Bühnenkünstler durch den Nationalsozialismus (von Werner Mittenzwei) beschäftigt sich eine Reihe von Aufsätzen mit deutschsprachigem Exiltheater in allen denkbaren Exilländern – wie z. B. in der Tschechoslowakei, Frankreich, den Niederlanden, Luxemburg, Polen, Schweiz, den skandinavischen Ländern, der Sowjetunion, Großbritannien, Türkei, Palästina / Israel, USA, Mexiko, Südamerika – und in Städten wie Danzig und Shanghai.
Der zweite Teil des Handbuchs, das Biographische Lexikon, kam mithilfe einer Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie Mitteln der P. Walter Jacob Stiftung Hamburg zustande. Im einleitenden Beitrag beschreibt Herausgeber Frithjof Trapp die Probleme bei der Erstellung der einzelnen Biographien, die sich vor allem durch die disparate Quellenlage ergaben, und er bezeichnet das Lexikon als Forschungsinstrument, das einen erreichten Erkenntnisstand dokumentiere und so Ergänzungen und Korrekturen ermögliche.
Sehr unterschiedlich sind die Beiträge über Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler im 1. Band des Handbuches. Helmut Müssener etwa schreibt detailliert über Deutschsprachiges Theater im skandinavischen Exil, einleitend gibt er einen Einblick in die Theaterszene, die die Exilanten vorfanden, beschreibt, welche Chance sie unter den völlig anderen Arbeitsbedingungen hatten und wie sie sie nutzten. Müssener räumt auch mit dem Mythos auf, daß Bertolt Brecht in den skandinavischen Ländern Anschluß an die lokale Szene gefunden hätte. Ganz anders liest sich Henry Marx' Beitrag über Exiltheater in den USA, der sich vor allem mit der New Yorker Emigrantenszene beschäftigt und mit den Schwierigkeiten, mit denen die deutschsprachigen Künstler unter den Produktionsbedingungen des Broadway konfrontiert waren.
Trotz aller Differenzen in Intention und Ausführung der Aufsätze gibt der vorliegende Band einen sehr guten Überblick über die Arbeitsbedingungen, die die deutschsprachigen Theaterkünstler in den Exilländern vorfanden, über ihre Probleme und ihre – trotz aller menschlicher und finanzieller Schwierigkeiten – geleistete Theaterarbeit. In der Zusammenschau der Beiträge werden die politischen Verhältnisse sowie die Bedingungen für eine künstlerische Arbeit in den einzelnen Exilländern deutlich, was sich etwa in der Geschichte von Erika Manns Kabarett "Die Pfeffermühle" zeigt. Am 1. Jänner 1933 wurde das Anti-Nazi-Kabarett "Die Pfeffermühle" von Erika Mann, Klaus Mann, Therese Giehse u.a. in München eröffnet, mußte aber wegen der Machtübernahme der Nazis bald geschlossen werden. Erika Mann und Therese Giehse gingen in die Schweiz, wo im Oktober 1933 die "Pfeffermühle" in Zürich wiedereröffnet wurde. In den folgenden Jahren gab das Kabarett 1.034 Vorstellungen in sieben Ländern, u.a. im Jänner und August 1935 sowie im Februar 1936 in der Tschechoslowakei. Hansjörg Schneider beschreibt in seinem Beitrag über Exiltheater in der Tschechoslowakei die Intention und das Programm der anti-nationalsozialistischen Kabarettgruppe. Erika Mann und ihre Truppe stellten sich "mit der Waffe des Geistes gegen den Nazismus", sie kämpften gegen Lüge und Dummheit und wandten sich dabei vor allem an ein bürgerliches Publikum, das die "Brandzeichen der Zeit nicht wahrnahm oder ignorierte". Schneider schätzt die Wirkung der "Pfeffermühle" sehr hoch ein: "Durch ihre Vorstellungen erreichte 'Die Pfeffermühle' Zehntausende von Zuschauern und warnte sie vor der braunen Gefahr. Und wenn sich 1938/39 viele tschechoslowakische Bürger durch rechtzeitige Flucht vor dem deutschen Faschismus retten konnten, hatte sie durch ihre Aufklärungsarbeit einen Anteil daran." Eine ähnlich interessierte Aufnahme wie in der Tschechoslowakei hatte die "Pfeffermühle" auch in Luxemburg. Trotz aller künstlerischen Erfolge der Kabarettgruppe gab es bald Probleme: Die Behörden weiterer Länder, in denen die "Pfeffermühle" spielte oder spielen wollte, wie etwa die Schweiz und die Niederlande, wollten sich ihre (guten) Beziehungen zu NS-Deutschland nicht durch die Auftritte des engagierten Kabaretts "verscherzen". In der Schweiz kam es zu Krawallen von nationalsozialistischen "Fröntlern" anläßlich der Aufführungen, 1937 wurde die Tätigkeit ausländischer politischer Kabaretts, also auch der "Pfeffermühle", vom Züricher Kantonatsrat verboten. Ein Versuch Erika Manns und ihrer Schauspieler, die "Pfeffermühle" 1937 in New York erfolgreich herauszubringen, endete in einem Totaldesaster, wie Henry Marx in Exiltheater in den USA beschreibt. Das Ensemble löste sich auf.
Die "Pfeffermühle" war ein engagiertes Kabarett, das, solange es vor deutschsprachigem Publikum auftreten konnte, Erfolg hatte und vielleicht auch eine gewisse aufklärende Wirkung. Außerhalb dieses Publikums aber, das genauso wie die Betreiber des Kabaretts mit der deutschsprachigen Theater- und Kabaretttraditon vertraut war, konnte es nicht bestehen.
Wie erging es nun Theaterleuten, die in einem fremdsprachigen Land Exil fanden? Warum und wie sollte man etwa in Shanghai Theater spielen? Shanghai gehört sicher zu den "fernsten" Fluchtorten der deutschsprachigen Emigranten, aber auch zu den wichtigsten, nach Angaben von Michael Philipp (Exiltheater in Shanghai 1939-1947) gelangten etwa 20.000 Verfolgte in diese Stadt. Shanghai war in den Jahren nach 1933 der einzige Hafen der Welt, in dem eine Landung ohne Visum möglich war, diese Stadt war also auch nach dem "Anschluß" Österreichs an Deutschland und nach den Novemberpogromen 1938 noch Flüchtlingen offen.
Philipp beschreibt im folgenden, daß die Exilanten in Shanghai eine (negative) gemeinsame Erfahrung hatten: jahrelange Entrechtung und Bedrohung (wenn sie aus Deutschland kamen), bürgerliches Leben bis vor kurzem, dann aber extrem feindliche antisemitische Aktionen (sofern sie aus Österreich kamen); relativ hoch war auch der Anteil an Menschen, die in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen waren. Im Zusammenhang mit diesen Erfahrungen der Flüchtlinge sei ihr Bemühen um eine kulturelle Identität genauso wichtig gewesen wie die materielle Lebenssicherung, so Philipp.
In Shanghai waren die ungefähr 200 Kulturschaffenden unter den Exilanten vor besonders eklatante Probleme gestellt. Die Lebensbedingungen waren sehr hart: Noch 1941 wurden rund drei Viertel der Flüchtlinge aus Gemeinschaftküchen verpflegt; nach Beginn des Pazifikkrieges im Dezember 1941 verfügten die japanischen Behörden die Einrichtung eines Ghettos für "stateless refugees", von Juni 1943 bis August 1945 mußten sie alle im teilweise noch zerstörten Stadtteil Hongkew leben. Der Alltag erlaubte also kaum einen Luxus wie die Beschäftigung mit Theater; dennoch bildeten etwa 40 der rund 80 professionellen Bühnenkünstler, die im Shanghaier Exil waren, Spielgemeinschaften, die "Bunte Abende", viele Komödien und im Exil geschriebene ernsthafte Dramen zeigten. Das Theater der Exilanten in Shanghai war kein dezidiert anti-nazistisches Theater, wie es die "Pfeffermühle" bot, sondern, wie Michael Philipp schreibt: "Seine entscheidende Bedeutung – und beachtliche Leistung – liegt darin, in einer fremden, weitgehend sogar bedrohlichen Umgebung den Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit individueller Selbstbehauptung gegeben zu haben. Zugleich wurde ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur sozialen und kulturellen Identität aller Emigranten geleistet.
Als "Suche in einem Scherbenhaufen" stellt Frithjof Trapp das Herangehen an ein Projekt wie dem Biographischen Lexikon der Theaterkünstler dar. Als die Nazis an die Macht kamen und systematisch jüdische und politisch unliebsame Künstler aus ihren Engagements drängten und verfolgten, sorgten sie auch dafür, daß die Erinnerung an sie zerstört wurde, ihre Namen, sogar die berühmter Exilierter, verschwanden aus den Lexika. Und nur ein Teil der Verfolgten kam zurück; und nur von einem Teil dieser Künstler ist bekannt, wo sie in den Jahren des Exils waren und ob und wie sie dort Theater spielten. Aufgrund der äußerst disparaten Quellenlage ist es verständlich, daß manche der Lebensläufe nur fragmentarisch sind. Die Wichtigkeit des Biographischen Lexikon liegt vor allem in zwei Bereichen: Sein Erscheinen ist ein Zeichen, daß der Intention der Nazis, ihnen unliebsame Künstler aus der Erinnerung zu löschen, entgegengehalten wird; und es erfaßt neben den Namen prominenter Künstler und Künstlerinnen wie Alexander Granach, Therese Giehse und Elisabeth Bergner ebenso Theaterkünstler, deren Lebensweg und künstlerischer Werdegang weniger bekannt sind, wie etwa Jaro Klüger oder Walter Firner. Vereinzelt werden auch Theaterleute genannt, die eigentlich mehr der jiddischen als der deutschsprachigen Theaterszene angehören, wie etwa Jacob Kalich und Sigmund Turkoff, und über die in der entsprechenden Literatur auch weitere Angaben zu finden sind. Einige Namen emigrierter Künstler/innen, wie etwa der Tänzerin Vera Goldmann oder des Tanzkritikers Walter Sorell, sucht man vergebens. Trotzdem bietet die vorliegende Ausgabe des Lexikons Informationen, die sonst nirgends zu finden sind, etwa über die Schauspielerin Silvia Grohs, die vor dem "Anschluß" an kleinen Wiener Bühnen aufgetreten war, 1938 über die Schweiz in die Niederlande kam, nach Belgien flüchtete, verhaftet wurde, in die Konzentrationslager Mechelen, Auschwitz und Ravensbrück kam, überlebte und 1947 in die USA ging. Insgesamt ist das Lexikon als Zusammenfassung eines derzeitigen Forschungsstands zu betrachten, auf dem aufbauend weitere Ergänzungen zu den Lebenswegen der Theaterkünstler gesammelt werden können und sollen.
Der erste Teil (und 1. Band) des Handbuchs des deutschsprachigen Exiltheaters 1933 – 1945 mit dem Titel Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler ist interessant und bietet eine Vielfalt an Informationen aus allen Teilen der Welt, in denen die Theaterkünstler Exil suchten. Nach der Lektüre bleiben aber einige Wünsche offen: Die Einbeziehung neuerer Bücher und Forschungen ist hier an erster Stelle zu nennen. So wird etwa Werner Mittenzweigs Darstellung der Arbeit der Exilanten am Züricher Schauspielhaus beziehungsweise der Rezeption ihrer Arbeit, wie er sie in Exiltheater in der Schweiz beschreibt, von der Darstellung in Peter Exingers und Ute Krögers Buch über das Schauspielhaus Zürich ("In welchen Zeiten leben wir!" Das Schauspielhaus Zürich 1938-1998. Zürich: Limmat Verlag, 1998) etwas relativiert. Ferner wäre es aufgrund der sehr unterschiedlichen Ansätze der einzelnen Beiträge notwendig, kurze Informationen über deren Verfasser zu bieten. Eine in diesem Sinn aktualisierte und mit Anmerkungen zu den Autoren ergänzte Buchausgabe, die für ein breiteres Publikum erreichbar (und erschwinglich) ist, ist ein weiterer Wunsch.
Der zweite Teil (Band 2 und 3) des umfangreichen Projekts, das Biographische Lexikon der Theaterkünstler, ist eine sehr brauchbare und ausbaufähige Quelle für alle weiteren Forschungen und Arbeiten über das Leben und Theater der exilierten Künstler, und es ist zu hoffen, daß es auch als solche wahrgenommen wird.
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