Christina Jung-Hofmann: Wirklichkeit, Wahrheit, Wirkung. Untersuchungen zur funktionalen Ästhetik des Zeitstückes der Weimarer Republik.
Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a.: Peter Lang 1999. (Studien zur Deutschen und Europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 40). ISBN 3-631-34387-6. 378 S. Preis: € 57,--/sfr 83,--.
Abstract
Sehr genau setzt sich Christina Jung-Hofmann in der vorliegenden Arbeit, die 1997 als Dissertation an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entstand, mit dem Begriff und der Programmatik des Zeitstückes in der Weimarer Republik auseinander.
In der Einleitung legt die Autorin die Definition von Kunst seitens namhafter Autoren - Theodor W. Adorno, Peter Szondi - dar, und schreibt, daß sie den Versuch unternehmen werde, "im Sinne Adornos Zeitstücke als Kunstwerke zu verstehen". "Bewußt wird darauf verzichtet, eine formale und inhaltliche Begriffsbestimmung des Zeitstückes am Anfang zu geben; ebenso wird darauf verzichtet, einen normativen Realismusbegriff vorauszusetzen, obwohl das Zeitstück seiner allgemeinen Charakteristika wegen dem Realismus zugeordnet werden muß." (S. 16)
Wie Jung-Hofmann erläutert, zielt ihr Ansatz "auf die Darstellung grundsätzlicher struktureller Möglichkeiten des Zeitstückes." (S. 18) Als Ausgangsbasis ihrer Arbeit beruft sie sich auf Thomas Koebners Typologie dreier zeitbezüglicher Formen der Dramatik der 1920er Jahre: "zum einen die 'Historie als Zeitstück', in der Geschichte und Gegenwart (und Zukunft) auf verschiedene Weise verbunden werden, zum anderen die überblicksartige Darstellung der politisch-gesellschaftlichen Gegenwart in der 'Zeitrevue', und zuletzt das 'Debatten- und Reportagestück', das einen temporären Mißstand der politischen oder gesellschaftlichen Gegenwart zum Thema und Vorwurf nimmt." (S. 19)
Im Forschungsüberblick werden auch Themen und Titel dokumentarischer Theaterstücke aufgelistet und Erwin Piscators Einfluß auf die Zeitstückdramatiker untersucht. Der Begriff Zeitstück wird als "funktionaler Begriff" gefaßt, "denn er bezeichnet eine Funktion, die Drama und Bühne in der Öffentlichkeit übernehmen sollen." (S. 48) Um die Intentionen der Dramatiker für die von ihnen gewählte dramatische Form geht es im Abschnitt Der 'Wille zur Wirklichkeit' - Die Programmatik des Zeitstückes. So standen "Lebens- und Gegenwartsnähe", ein direkter Wirklichkeitsbezug für die Autoren im Vordergrund, Authentizität und Objektivität sollten durch die Verwendung von Dokumenten gestützt werden, die zudem beweisen sollten, "daß die beanstandeten gesellschaftlichen Mißstände nicht lediglich 'erfunden' sind." (S. 61) Jung-Hofmann stellt im weiteren fest, daß es "unterschiedliche Grade" der "aufklärenden Wirkungsabsicht" des Zeitstücks gebe, je nachdem, ob die "Information des Zuschauers oder dessen Aktivierung zum Handeln" (S. 64, Hervorhebungen im Original) im Vordergrund standen. Sehr wesentlich ist der Hinweis auf eine heute oft vergessene Aufgabe des Theaters, die im besonderen das Zeitstück erfüllte, nämlich seine Funktion als Informationsquelle: "Das Theater fungierte vor allem in der Spätphase der Republik zum Teil als 'Ersatzmedium', weil die offizielle Presse Nachrichten und Berichte unterdrückte." (S. 65) In der Zusammenfassung des Abschnitts legt die Autorin dar, daß dem "Zeitstück ein operatives Kunstverständnis zugrundelag, dem Inhalt und Wirkung wichtiger waren als ästhetische Qualität", und diskutiert den Vorwurf der "Tendenzkunst". Ein weiteres Kapitel ist dem Realismus und dem entsprechenden literaturhistorischen Diskurs gewidmet, wobei festgestellt wird, daß der Realismus eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner in bezug auf das formal und inhaltlich sehr heterogene Genre des Zeitstückes ist.
Den umfangreichsten Teil der vorgelegten Arbeit bildet die Analyse einer Reihe heute nur teilweise bekannter Theatertexte, eingeleitet von einem kurzen Überblick über die Geschichte der Weimarer Republik. In der Kategorie "Zeitstück im historischen Gewand" werden Ehm Welks Gewitter über Gottland und März von Eleonore Kalkowska untersucht; unter der Überschrift "Zeitrevuen" analysiert die Autorin Wilhelm Herzogs Rund um den Staatsanwalt sowie Ernst Tollers Hoppla, wir leben! in der Inszenierung Erwin Piscators; als "Reportage- und Debattenstücke in suasorischer Absicht" nennt Jung-Hofmann Die Stempelbrüder von Richard Duschinsky, Georg Rennefarths Der Massenmörder und Carl Credés § 218 (letzteres ebenfalls in der Inszenierung Erwin Piscators). Am Beginn der einzelnen Abschnitte werden ihre jeweiligen Titel bzw. die darin enthaltenen Begriffe erläutert, danach werden die genannten Theatertexte hinsichtlich ihres historischen bzw. politischen Hintergrunds, ihres Inhalts und ihrer Dramaturgie untersucht, wobei auch die zeitgenössischen Inszenierungen sowie die Reaktionen der Kritik einbezogen werden.
Im Schlußkapitel geht die Autorin erneut auf den Realismus des Genres Zeitstück ein und ortet "ein Verfahren, das als rhetorischer Realismus bezeichnet werden sollte." (S. 318)
Christina Jung-Hofmanns Untersuchung ist eine breit angelegte, genau recherchierte Basisarbeit zum Begriff des Zeitstücks, zu dessen Wirkungsabsicht und Ästhetik, aber auch zum historischen und politischen Hintergrund der einzelnen Theatertexte. Trotz der manchmal sperrigen Sprache ist diese Arbeit eine Grundlage zur weiteren Auseinandersetzung mit Zeitstücken sowie mit den besprochenen Theatertexten, deren Analyse etwa einen Vergleich mit ähnlichen Produktionen im Wien der 1920er Jahre möglich macht.
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