Jörg Helbig: Geschichte des britischen Films.
334 Seiten, 34 Abb. Gebunden. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1999. ISBN 3-476-01510-6. Preis: DM 58,-/ATS 424,-/SFr 52.50.
Abstract
Filmgeschichtsschreibung als Archäologie des Commonsense - Jörg Helbigs Geschichte des britischen Films
"Ich habe so eine Vorstellung, ich weiß nicht, ob sie richtig ist, daß England auf eine undefinierbare Weise ausgesprochen filmfeindlich ist. [...] Man könnte sich fragen, ob nicht die Begriffe Kino und England eigentlich unvereinbar sind." lautet François Truffauts berühmt gewordene Einschätzung des britischen Films, die zwar übertrieben erscheint, aber dennoch zutrifft, wenn man den britischen Film aus internationaler Perspektive betrachtet. Im Ausland wird das britische Kino weitestgehend nur mit James Bond-Filmen und Pink Panther assoziiert. Insbesondere von Seiten der deutschsprachigen Filmliteratur wurde die britische Filmgeschichte bislang noch nicht erschlossen, ja fand kaum Beachtung.
Jörg Helbigs 1999 erschienenes Buch Geschichte des britischen Films verfolgt das Ziel, dieses filmwissenschaftliche Versäumnis nachzuholen und beansprucht für sich, die erste umfassende Darstellung der Entwicklung des britischen Spielfilms zu sein; wohlgemerkt nur des Spielfilms (!), obwohl laut Buchtitel eigentlich auch der Dokumentarfilm erfasst sein müsste.
Das Buch ist streng chronologisch aufgebaut und spannt einen Bogen von den britischen Filmpionieren der Stummfilmzeit (Birt Acres, Cecil Hepworth etc.) bis zum Kino der Gegenwart. Die Kapitel sind sowohl nach bestimmten Epochen der britischen Filmgeschichte, nach bestimmten Genres, wie zum Beispiel dem Agentenfilm, als auch nach herausragenden Regiepersönlichkeiten gegliedert. So erfährt man von den Rivalitäten Hitchcocks und Asquiths während der Zwischenkriegszeit, von der Internationalisierung des britischen Kinos durch Alexander Korda, der goldenen Ära des britischen Films und der Rank-Organisation, den Hammer-Productions, dem britischen Popmusikfilm des Swinging London, der von Anderson und Richardson geprägten New Wave-Bewegung und dem New British Cinema ebenso wie von den Kunstfilmen Greenaways und Jarmans. Den Regisseuren Michael Powell und Emeric Pressburger, Carol Reed, David Lean, Peter Greenaway und Derek Jarman sind eigenständige Kapitel gewidmet.
Helbigs Zielsetzung, die britische Filmgeschichte stärker in den Blickpunkt der deutschsprachigen Filmforschung zu rücken, ist zweifellos begrüßenswert, sein Vorhaben muss jedoch als gescheitert betrachtet werden. Das Buch hält bei weitem nicht, was sein Vorwort verspricht. Die Absicht, 100 Jahre britischer Filmgeschichte auf 300 Seiten unterzubringen und dabei möglichst keinen Film und keinen Namen unerwähnt zu lassen, kann nur zu dem äußerst unbefriedigenden Ergebnis führen, dass eben alles nur erwähnt bleibt und Helbig sich in endlose Aufzählungsketten verliert. Filmgeschichte im Eiltempo: informativ, aber oberflächlich! Hinzu kommen zahlreiche methodologische und inhaltliche Mängel: Es beginnt bei der Struktur des Buches, die äußerst brav und ideenarm, ja geradezu antiquiert erscheint. Beharrlich linear - ohne kapitelübergreifende, Bezüge herstellende Vor- und Rückgriffe - wird ein Abschnitt der britischen Filmgeschichte nach dem anderen isoliert vorgeführt, wo doch angesichts der Lücken innerhalb der Forschung über den britischen Film das Herausgreifen einzelner Aspekte oder Linien nicht nur legitimer, sondern nachgerade wichtiger gewesen wäre. Hat sich doch insbesondere in der jüngeren Vergangenheit die Filmgeschichtsschreibung immer stärker weg von Linearität und Chronologie, hin zur Konstruktion von Gesamtzusammenhängen entwickelt.
Helbig zeigt keinerlei Mut zu unkonventionellen, persönlichen Gewichtungen und Epocheneinteilungen. Er stützt sich auf den Commonsense gängiger Etiketten wie "Swinging London" und "New Wave". Vor allem fehlt der Mut für Randthemen. Stattdessen widmet Helbig dem britischen Agentenfilm ganze 20 Seiten, obwohl er im Vorwort verkündet hat, mit dem Vorurteil "Britischer Film = James Bond" aufräumen zu wollen. Der Anspruch, nichts - auch nicht James Bond und Monty Python - auszulassen, wirkte sich für unbekanntere Filme und Regisseure, die eine ausführlichere Darstellung verdient hätten, verständlicherweise nachteilig aus. John Boorman zum Beispiel bleibt nur erwähnt. Positiv hervorzuheben wäre jedoch das Kapitel über Michael Powells Peeping Tom, einen Film, der mittlerweile zwar zum Klassiker avanciert ist, bei seinem Erscheinen jedoch durch seine verstörende Wirkung radikal mit den Sehgewohnheiten des Publikums gebrochen hat. Auffallend ist weiters, dass die drei konstitutiven Säulen der Filmgeschichtsschreibung, nämlich Ökonomie, Politik und Ästhetik, kaum Beachtung finden. Einzig im Kapitel über das Verhältnis der britischen Filmindustrie zum Staat werden ökonomische und ideologische Problembereiche zwar kurz angerissen, in der Folge jedoch kaum mehr berücksichtigt. Ästhetische Linien sowie wesentliche ästhetische Charakteristika des britischen Films werden nicht herausgearbeitet, Vergleiche zwischen einzelnen Filmen bzw. Regisseuren bleiben aus. So wäre es doch eigentlich nahe liegend gewesen, einen formal-ästhetischen Vergleich zwischen der Strömung des sozialen Realismus und dem Genre des Popmusikfilms anzustellen. Außerdem werden kaum Wechselbeziehungen zu anderen Filmländern und deren Einflüsse auf den britischen Film aufgezeigt.
Helbigs historisch-deskriptive Methode vernachlässigt fast durchwegs ästhetische und theoretische Ansätze, kritische Betrachtung und Analyse bleiben aus. Die Filme werden nur über deren zeitgenössische Rezeption präsentiert und nach Erfolg bzw. Misserfolg bei Publikum und Presse beurteilt. Man hat an vielen Stellen den Eindruck, als verschanze sich Helbig hinter den Meinungen der Regisseure, der Kritiker und des Publikums, um auf persönliche Zugänge verzichten zu können. So weist er in Zusammenhang mit Alec Guiness' Rolle des jüdischen Schurken Fagin in David Leans Oliver Twist nur darauf hin, dass diese Figur von amerikanischen Kritikern als antisemitisch beurteilt wurde, ohne dabei näher auf Guiness' Darstellung des Juden einzugehen bzw. zu diskutieren, ob und inwiefern diese als antisemitisch gesehen werden kann.
Helbig geht es in erster Linie um das Zitieren von pointierten Kritikeraussagen und Bonmots sowie um das Anführen mehr oder weniger interessanter Anekdoten, die wahllos herausgegriffen und filmhistorisch irrelevant erscheinen. Sie sind größtenteils Fanwissen à la Cinema und keine seriöse Hintergrundinformation. So erfahren wir beispielsweise, dass Carol Reed - der Regisseur des erfolgreichen Films Der dritte Mann - eine "charmante und gesellige" Erscheinung und ein "hingebungsvoller Familienvater" war. Die Bedeutung dieser Information für Reeds Schaffen als Regisseur ist peinlich gering. Auch die mittlerweile schon tot zitierte Anekdote über Hitchcocks Kindheitserfahrung mit der Polizei entbehrt jeglicher inhaltlicher Motivierung und dient eher der unterhaltsamen Auflockerung als der Verdeutlichung seiner Künstlerpersönlichkeit.
Mit der Geschichte des britischen Films wollte Helbig wohl in erster Linie ein akademisches Lehrbuch verfassen, was ihm nicht gelungen ist. Denn dazu geriet das Werk zu oberflächlich, neue Forschungsergebnisse werden kaum präsentiert. Zweifelhaft ist auch, ob Helbigs Buch einen wesentlichen Beitrag zur Imageverbesserung und Aufwertung des britischen Films und seiner Geschichte leisten wird. Am ehesten eignet sich der Band dazu, einen schnellen Überblick über das britische Kino zu gewinnen. Leider fehlen jedoch am Ende jedes Kapitels weiterführende Literaturhinweise, sodass man auf der Suche nach Vertiefungsmöglichkeiten auf sich allein gestellt bleibt.
Diese Rezension ist auch erschienen in: medien & zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart, Nr. 1/2000, Jahrgang 15, S. 52 ff.
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