Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen, Gabriele Jatho (Hg.): Künstliche Menschen. Manische Maschinen. Kontrollierte Körper.
Berlin: Jovis 2000. 224 S., ca. 200 z. T. farbige Abb. Hardcover. ISBN 3-931321-71-1. Preis: DM 78,-/ATS504,- /SFr 73,-
Abstract
Um die Welt als Wille und Vorstellung, als Laboratorium und Marionettentheater und innerhalb dieser im Speziellen um die Film-Welt als Versuchsstätte und Maschinentheater geht es in dem kürzlich erschienenen Buch Künstliche Menschen, das von Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen und Gabriele Jatho (alle drei Mitarbeiter des Filmmuseums Berlin) in Zusammenarbeit mit dem Filmarchiv Austria als Filmkatalog zur groß angelegten, gleichnamigen Filmretrospektive im Rahmen der Berlinale herausgegeben wurde.
Das Vorwort der Herausgeber schließt mit dem Satz: "Das Laboratorium des Dr. Frankenstein wird geöffnet." Tatsächlich präsentiert sich das Buch per se auf Text- und Bildebene als eine Art Laboratorium, in dem das Generalthema "künstlicher Mensch" aus den verschiedensten Blickwinkeln von Autoren der unterschiedlichsten Disziplinen bzw. Denkrichtungen beleuchtet und umspielt wird. Versammelt sind nicht nur Essays von Film-, Literaturhistoriker(inne)n und Medientheoretiker(inne)n, sondern auch Beiträge mit kybernetischen, philosophischen, kulturanthropologischen, politologischen und motivgeschichtlichen Themenschwerpunkten. Darüber hinaus sind zahlreiche Werkstattberichte, Drehbuchauszüge und andere Dokumente aus der Literatur- und Filmgeschichte abgedruckt.
Die außergewöhnlich große Textvielfalt bewirkt, dass die gesamte Bandbreite an Figuren, Motiven und Stoffen aus dem umfangreichen Themenkomplex "künstlicher Mensch" abgedeckt wird, sowohl was die Literatur- als auch die Filmgeschichte betrifft. Es geht um Golems, Roboter, Puppen und Homunculi, um Automaten, Alraunen, Androiden und um Cyborgs. Das Spektrum der behandelten filmischen Entsprechungen umspannt die gesamte Filmgeschichte, von Golem, Metropolis und Frankenstein, über Demon Seed, Blade Runner, Terminator und Robocop bis zu Tetsuo, Alien Resurrection und Matrix.
Auch auf Bildebene ist der Katalog eine wahre Fundgrube. Während man bei vergleichbaren Publikationen häufig den Eindruck bekommt, die abgedruckten Fotos seien per Zufallsgenerator ausgewählt und dienten einzig der visuellen Auflockerung, ist die Bebilderung in Künstliche Menschen hingegen mehr als nur Beiwerk. Das Buch ist durchdacht illustriert, die Fotoauswahl erscheint liebevoll zusammengestellt, sodass die Abbildungen über ihre den Text kommentierende und bebildernde Funktion hinaus einen eigenständigen, zusätzlichen "Bildband" innerhalb des Buches generieren.
Es existiert eine eigentümliche Verwandtschaft zwischen dem Kino und dem künstlichen Menschen. Bei ersterem werden mittels technischer (Re-)Produktion Illusionen erzeugt, bei zweiterem ist es häufig die Kombination von toter Materie und Magie, durch die der künstliche Mensch zu leben beginnt (vgl. Der Golem). Es geht also bei beiden um das Zusammentreffen von Mythos und Logos, von Magie und Mechanischem. Eine weitere Parallele zwischen dem Medium Film und dem Stoff künstlicher Mensch bildet der Schöpfermythos. Das filmische Pendant zum Schöpfer, der dem künstlichen Menschen Leben einhaucht, ist der Regisseur, der mittels Kamera die Schauspieler zum Leben erweckt. Darüber hinaus manifestiert sich in beiden Formen das Bedürfnis des Menschen nach Spiegelbildern. Darauf weist Georg Seeßlen in seinem Beitrag über Traumreplikanten des Kinos hin, wenn er schreibt: "Um ganz zu werden, braucht der Mensch sein Bild und seine Spiegelung; er wird erst im Bild des anderen. Aber dieses Bild ist ihm zugleich das Fremde, sein Tod. Denn das Bild ist ganzer als er selbst, es überdauert ihn womöglich; wie er ganz werden will, spaltet er sich noch mehr" (S. 13). Dem Menschen wird sowohl im Kino als Ort der Projektion ein Spiegel vorgehalten als auch durch die (projizierten) Erzählungen von der Erschaffung eines künstlichen Eben- und Gegenbildes. So gesehen kann die Thematik des künstlichen Menschen als das Kino-Thema par excellence betrachtet werden.
Es gibt sowohl in der Filmgeschichte als auch in der Literaturgeschichte eine Tradition, sich mit dem Thema künstliche Menschen und Wesen zu beschäftigen. Originellerweise eröffnet das Buch nicht mit einem filmtheoretischen Essay, sondern mit einem literarischen Text, mit Heinrich von Kleists philosophischem Aufsatz Über das Marionettentheater. Dadurch wird deutlich, dass künstliche Menschen, Automaten, Puppen und Marionetten vor allem auch ein Thema der Literatur sind. Man denke nur an an den Golem des Rabbi Loew, an die Ausführungen Goethes über den Homunculus, an die Romantik und E.T.A Hoffmanns Der Sandmann, an den Schachautomaten in Ambroce Bierces Erzählung Moxon's Master, an die Androiden in Philip K. Dicks Do Androids Dream of Electric Sheep? und nicht zuletzt an Mary Shelleys Frankenstein.
Der umfangreichste Essay in Künstliche Menschen stammt von dem Filmpublizisten Georg Seeßlen und trägt den Titel Traumreplikanten des Kinos. Passagen durch alte und neue Bewegungsbilder. Seeßlens Beitrag gehört zu den interessantesten des Buches. Er präsentiert dem Leser einen profunden Abriss der kulturhistorischen Entwicklung des Mythos vom künstlichen Menschen. In Rekurs auf Stanislav Lem beschreibt Seeßlen drei Stadien, die der Mythos durchlaufen hat. In vorchristlicher Zeit genoss der künstliche Mensch rein magischen Status, wie beispielsweise der Golem. Darauf folgte der "christliche Skandal", die Erschaffung des künstlichen Menschen wurde zum Tabubruch und zur Gotteslästerung, weil er als menschlicher Versuch erschien, sich auf eine Stufe mit Gott zu stellen (siehe Frankenstein). Deshalb waren die "Urroboter" immer unheimlich und bedrohlich. Im nächsten Stadium erlangte der Mythos "künstlicher Mensch" einen technisch-wissenschaftlichen Status, es ging um den Ausbruch aus der Evolution. Zudem kamen "weiße Varianten" des künstlichen Menschen auf: Roboter, die als Arbeitskräfte den Sklaven und das Industrieproletariat ersetzen sollten. Im Kino kommt es zu einer Vermischung dieser Stadien. Insbesondere im Genre des Sciencefictionfilms entsteht eine Art Kurzschluss zwischen dem magischen, vorchristlichen Weltbild und dem mechanischen, wissenschaftlichen Weltbild. Das wird beispielsweise in Metropolis deutlich. Homunculus, Golem und Frankenstein sind für Seeßlen die großen Vor-Bilder und Modelle aus der Geschichte, die das gesamte motivische Spektrum des Themenkomplexes "künstlicher Mensch" enthalten: die Mischung aus Magie und Materie, die Aggression des Geschöpfs gegen die Umwelt, gegen den Schöpfer oder dessen Frau, die kindliche Unschuld, das Spannungsfeld von Eros und Thanatos, die Erkenntnis des Geschöpfs als seelenloses Wesen ohne Aussicht auf Liebe etc. Im zweiten Teil seines Essays widmet sich Seeßlen dem Film. Er entwirft einen Katalog der Kino-Varianten von künstlichen Menschen. Dieser erstreckt sich von Nr. 1, der künstliche Mensch, der sich gegen den Schöpfer richtet (Blade Runner), bis zu Nr. 10, der künstliche Mensch als freundlicher, maschineller Begleiter (Star Wars, Wizard of Oz). Zudem zeigt Seeßlen auf, in welcher Weise Themen wie Gentechnologie und Virtual Reality in die filmische Auseinandersetzung mit künstlichen Menschen Eingang gefunden haben (Gattaca, Johnny Mnemonic, eXistenz). Der Mythos vom künstlichen Menschen ist durch Virtual Reality in ein viertes, "postmodernes" Stadium eingetreten. In diesem erscheint er als Daten- und Informationskonstrukt.
Zu den großen Vorzügen des Buches zählt das Bemühen, die Thematik des künstlichen Menschen vor dem Hintergrund aktueller technologischer Entwicklungen wie Bioengineering und Digitalisierung neu zu überdenken, zu bewerten und auszudifferenzieren. So findet sich in dem Band ein Beitrag über Ideale Idole - Neue Stars in globalen Netzwerken von Ulrich Gutmair (Publizist), der sich in seinem Essay mit Lara Croft, Kyoto Date und Co. auseinandersetzt, und ein Beitrag über Foto-Doubles und digitale Chimären mit dem Titel Der Index ist die Nabelschnur, verfasst von der Kunsthistorikerin Katharina Sykora. Im Zeitalter von Virtual Reality, Computermorphing und digitaler (Re)Produzierbarkeit muss die Frage nach Gestalt und Bedeutung der künstlichen Menschen ganz neu überdacht werden. Im digitalen Zeitalter erfährt die Thematik einen Perspektivenwechsel: Es handelt sich nun nicht mehr um den künstlichen Menschen in einer wirklichen Welt, sondern um den wirklichen Menschen in einer künstlichen Welt, sofern man von wirklichen Menschen überhaupt noch sprechen kann. In Zukunft werden reale Schauspieler immer öfter computergenerierten künstlichen Schauspielern weichen müssen, wodurch also eine Welt, die nur mehr von künstlichen Menschen bevölkert ist, entsteht: Nicht Schauspieler spielen künstliche Menschen, sondern künstliche Menschen spielen Schauspieler. Auch politische und ideologische Gesichtspunkte in Zusammenhang mit dem Thema "künstlicher Mensch" kommen nicht zu kurz. In dem Beitrag Unverhohlene Biokratie beschäftigt sich der Filmpublizist Jörg Becker mit der Rassenpolitik im Dritten Reich, mit Züchtigungswahn und Erbhygiene, während sich Hans-Joachim Schlegel (Filmpublizist) in Konstruktionen und Perversionen den "neuen Menschen" im Sowjetfilm zum Thema gemacht hat.
Zwei Beiträge seien wegen ihrer besonders originellen Ausgangsideen besonders ans Herz gelegt: Der Kybernetiker Giorgio C. Buttazzo stellt sich in seinem Beitrag Kann je eine Maschine sich ihrer selbst bewußt werden? die Frage, wann ein Computer die Kapazität des menschlichen Gehirns erreicht haben wird. Nach langwierigen mathematischen Berechnungen kommt er auf die Jahreszahl 2029, exakt das Jahr, das in Terminator 2 vorausgesagt wird. Der andere Text - verfasst von den Filmhistorikern Paolo Caneppele und Günter Krenn (Titel: Dei ex machina) - behandelt die fiktiven Biografien von Filmschauspielern. Ausgangspunkt ist die Bestimmung von "Schauspielern" als "künstliche Menschen", die von Maschinen (Kamera/Projektor) ins Leben gerufen werden. Als artifizielle Wesen haben sie somit auch artifizielle Biografien. Oftmals in der Filmgeschichte wurden die Biografien von Stars wie z. B. von Theda Bara manipuliert, umgeschrieben und erfunden, um das Leben der Stars ihrem Image anzugleichen.
Zwischen den einzelnen Beiträgen sind immer wieder Werkstattberichte über Terminator, Robocop und Blade Runner, Texte zu und über Alraune, Homunculus, Golem und Automatenfrauen sowie Drehbuchauszüge von Die Edison-Frau und Metropolis abgedruckt. Den Abschluss des Buches bilden eine ausführliche Filmografie aller im Buch erwähnten Filme, ein Glossar von A wie "Alraune" bis Z wie "Zylonen" und eine kommentierte Bibliografie.
Dem Charakter des Buches - Katalog und "Fundgrube" - entspricht keine lineare Lektüre von A bis Z; viel adäquater ist es hingegen, das Buch quer zu lesen, immer wieder hervorzuholen, um nachzuschlagen und zu schmökern. Das vielgestaltige Text- und Fotomaterial erzeugt ein filmisches Puzzlespiel, das sich mit jedem neuen Mal Lesen immer mehr zu einem zusammenhängenden, komplexen Ganzen fügt.
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