Matthias Warstat: Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft.
Paderborn: Fink 2018. ISBN 978-3-7705-6310-4. 277 S., Preis: € 49,90.
Abstract
Gesellschaften werden inszenatorisch hervorgebracht – so Matthias Warstat, der sich in seinem neusten Buch mit dieser These im Gepäck auf die Suche nach einem historisch informierten Konzept sozialer Theatralität für die Gegenwart begibt. Er befragt hierfür gleich zwei Begriffe in ihrem Zusammenhang, die für eine kulturwissenschaftlich orientierte Theaterwissenschaft zentral sind: Theatralität und Gesellschaft. Während Theatralität inzwischen wichtiger Bestandteil fachtheoretischer Überlegungen ist, diagnostiziert Warstat die Erosion des Gesellschaftsbegriffs ("society is long dead", Anthony Elliot/Bryan S. Turner 2012). Dennoch werde Gesellschaft gerade in ihren theatralen Dimensionen stetig erfahr- und erfassbar, sie "zeige" sich – "auch dann, wenn man sich ihr nicht aktiv zuwendet" (S. 12). So geht die Publikation Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft von der Annahme aus, Gesellschaft komme "zum Erscheinen" (S. 13) und fragt im Anschluss daran nach der Art und Weise dieses Erscheinens aus theaterwissenschaftlicher Perspektive: nach dem Theater im sozialen Leben und nach den Szenen, in denen Gesellschaft sich zeigt.
Um diese theatralen Konstellationen von Gesellschaft analytisch beschreibbar zu machen, erarbeitet Warstat, Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, einen sozialtheoretisch ausdifferenzierten Theatralitätsbegriff. Diesem Ziel nähert sich die Publikation in einem Dreischritt: Werden zunächst historische Positionen der Sozialtheorie des 20. Jahrhunderts theoriegeschichtlich verortet und auf ihr implizites Wissen um theatrale Aspekte von Gesellschaften hin befragt, widmet sich der zweite Teil des Buchs zeitgenössischen Theorien, um dann im dritten und finalen Teil einen eigenen Begriff sozialer Theatralität vorzuschlagen. So lesen sich die beiden vorangestellten Komplexe als stichprobenhafte Suchen nach Ansätzen für ein neu zu bestimmendes Verständnis sozialer Theatralität.
Ausgehend von der Gründungsphase der modernen Soziologie um 1900 spürt Warstat theatrale Denkfiguren in kanonischen Texten der Sozialtheorie auf (Teil I: Historische Grundlagen einer theatralen Sozialtheorie) – und gelangt so von Gabriel Tardes Hauptwerk La lois de l’imitation (1890) über Georg Simmel und Helmuth Plessner zu Milton Singers Konzept der Cultural Performances, das er ebenso einer historisierenden Kritik unterzieht wie Guy Debords These von der Spektakelgesellschaft (La Société du Spectacle, 1967), entstanden im Umfeld linker Theatralitätskritik um 1968. Der in der Nachfolge von Erving Goffman schreibende Anthony Giddens beschließt mit seiner "Theorie der Strukturierung", nach der "soziale Skripte" (S. 30) Handlungen anleiten und Gesellschaft strukturieren können, die Exegese historischer Sozialtheorien. All diesen gesellschaftstheoretischen Positionen ist ein "eingeschriebenes Bewusstsein für Theatralität" (S. 13) gemeinsam. Dieses Bewusstsein und die jeweils variierenden Begriffe gesellschaftlicher Theatralität arbeitet Warstat unter Einbezug historischer Kontexte kenntnisreich heraus, um daraus schließlich zu eigenen Begrifflichkeiten und Theoremen zu gelangen.
Jenseits dieser größeren Zielsetzung erschließen sich die einzelnen Lektüren aber auch als kleine Theoriegeschichten, die gerade durch die gemeinsame Kontextualisierung von theatralen und gesellschaftlichen Dimensionen wechselseitig epistemisches Potential entfalten. Während Simmels Verständnis theatraler Prozesse zeitdiagnostisch an das Sozialgefüge der modernen Großstadt rückgebunden ist, verortet Warstat Plessners Schriften (Zur Anthropologie des Schauspielers, 1948; Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928; Grenzen der Gemeinschaft, 1924) als Resultate der Zwischenkriegszeit und stellt unter Einbezug der "kalten persona" (Helmuth Lethen) einen defensiven Theatralitätsbegriffs heraus. Dieser sei gleichsam mit einem Maskenverständnis verbunden, das hauptsächlich auf die Schutzfunktion von Maske ziele und in einer – auf Plessner rekurrierend – "Sehnsucht nach den Masken" (S. 65) resultiere. Das Konzept der Cultural Performance, hervorgegangen aus den Indien-Expeditionen des Ethnologen Singer in den 1950er Jahren, zieht kulturelle Aufführungen als Erklärungsmodelle für ganze Gesellschaften heran und erlebte aufgrund dessen eine nachträgliche Konjunktur in der Theaterwissenschaft. Warstat beschreibt hingegen die Entstehungsumstände des Konzepts und nutzt die kritische Lektüre zugleich gekonnt als Folie für die eigene Theoriebildung: Gesellschaft sei von Kultur zu trennen, sie zeige sich demnach nicht unbedingt in kollektiven kulturellen Äußerungen und auch soziale Theatralität erschöpfe sich "nicht in jenen Festen, Ritualen und Veranstaltungen, in denen sich die Mitglieder der Gesellschaft ihrer kulturellen Orientierung versichern" (S. 28).
In diesem Modus der exegetischen Annäherung an und argumentierten Abgrenzung von Konzepten zugunsten eigener Begriffsbestimmungen verfährt die Publikation auch im zweiten Teil, in dem zeitgenössische Theorien auf den Prüfstand gestellt werden (Teil II: Studien zur Theatralitätstheorie der Gesellschaft). In vier Kapiteln bespricht Warstat Schriften von Ernesto Laclau, Bruno Latour, Manuel DeLanda, Sara Ahmed und Lauren Berlant. Den 'leeren Signifikanten', ein sinnentleertes Zeichen, das nach Laclau gerade aufgrund seiner Vagheit Gesellschaften in ihrer Totalität fassen könne, liest Warstat als theatrales Zeichen, fragt nach den 'leeren Szenen', in denen sich ein soziales Ganzes erkennen lasse – und verwirft die Theorie schließlich auf Basis von Slavoj Žižeks Kritik an der proto-faschistischen Ausdeutbarkeit von Laclaus Signifikanten.
Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie scheint insbesondere dazu geeignet, dualistische Ordnungsmuster sowie subjektzentrierte Ideen von Existenz im Nachdenken über Theatralität zu vermeiden, seien doch auch "Apparaturen, materielle Ressourcen und technische Infrastrukturen" (S. 28) integral für Gesellschaften. Manuel DeLandas komplexe Assemblagen zielen im Anschluss daran ebenso auf eine Überwindung des Anthropozentrismus sowie auf ein Mitdenken von "Objekten der Gesellschaft" (S. 187) und ihrer Theatralität. Affekttheoretische Gesellschaftsanalysen mit Fokus auf den "Gefühlsinszenierungen des gegenwärtigen Kapitalismus" (S. 31) beschließen diesen Buchteil und führen mit Sara Ahmeds Schrift The Cultural Politics of Emotions und Lauren Berlants Begriff vom Cruel Optimism – ein Begriff, der die "affektive Fixierung" (S. 215) auf schädliche Vorstellungen, Objekte oder Personen zu fassen sucht – auch Gesellschaftstheoretikerinnen ins Feld.
Mit diesen "Bausteinen" (S. 31) gewappnet, kommt die Publikation schließlich zu einem eigenen "Begriff sozialer Theatralität" (Teil III), der wiederum in einem Dreischritt entwickelt wird: Warstat schlägt vor, Modi des Handelns sowie spezifische Haltungen und Ereignisse zu bedenken, wenn von sozialer Theatralität die Rede ist, also handlungs-, wahrnehmungs- und ereignistheoretische Zugänge zu verbinden, um theatrale Dimensionen gegenwärtiger Gesellschaft zu fassen. Theatralität bezeichne demnach eine Handlungsweise, die einerseits auf Gesellschaft reagiere, umgekehrt aber auch Möglichkeiten eröffne, Kollektive zu formen und zu gestalten. Theatrales Handeln sei stets bewusstes "Als-ob-Handeln" (S. 230), das mit spezifischen, historisch veränderlichen (theatralen) Haltungen einhergehe, welche Warstat an den Brecht’schen Gestus anlehnt. Die dritte – wahrnehmungstheoretische – Dimension von Theatralität berücksichtigt hingegen "Eindrücke des Theatralen" (S. 251), "Momente der Ostentation, des Sich-Zeigens, der Enthüllung" (S. 262), die sich plötzlich und im Alltag einstellen können, ohne an konkrete theatrale Handlungen gebunden zu sein. Sie stellen sich stattdessen erst in der und durch die Wahrnehmung der Betrachtenden ein, die hierfür eine – wiederum an Brecht erinnernde – distanzierte Beobachtungsposition einnehmen müssten.
Unter anderem durch diese Distanznahme – die dann gleichsam auch für die wissenschaftliche Analyse sozialer Theatralität gelten muss – werde, so Warstat, ein "Eindruck des Ganzen wirksam" (S. 31); dies sei Gesellschaft. So erschließt sich die Publikation letztlich nicht nur als Suche nach einem neuen Theatralitätsbegriff, sondern auch als Plädoyer für die gegenseitige Bedingtheit von Theatralität und Gesellschaft – und damit von Theatertheorie und Gesellschaftstheorie. Matthias Warstat erarbeitet einige dieser Theorien detailreich, in zugänglicher aber nie vereinfachender Sprache und legt damit auch ein Studienbuch für einzelne Gesellschafstheorien aus theatralitätstheoretischer Perspektive vor, das darüber hinaus präzise im Feld metaphorisch aufgeladener und heterogen verwendeter Theater- und Gesellschaftsbegrifflichkeiten operiert. So können Warstats Hinweise zur Abgrenzung von Performativität und Theatralität sowie von theatralem und sozialem Rollenhandeln (am frühen Beispiel von Georg Simmels Unterscheidung veranschaulicht) auch jenseits des Erkenntnisinteresses der Publikation für die theaterwissenschaftliche Diskussion fruchtbar sein.
Die Struktur des Buchs, das einen neuen Begriff sozialer Theatralität Kapitel für Kapitel und aus der Theoriegeschichte heraus entfaltet, hat hingegen für den Lesemodus und für das entwickelte Konzept selbst Konsequenzen: Dem Leser offenbart sich im Lauf der ersten beiden Teile erst langsam ein Verständnis von Theatralität wie von Gesellschaft, das Warstat selbst anlegt. Andererseits ermöglicht dieses Vorgehen ein Flanieren durch sozialtheoretische Diskurse des 20. Jahrhunderts, das den Theoretikern und ihren Gesellschafts- und Theaterverständnissen selbst genug Raum lässt, wobei es Warstat dennoch en passant gelingt, überzeugende Deutungsperspektiven auf die Lektüren anzubieten. Der theoriegeschichtliche Fokus hat notwendigerweise zur Folge, dass der Begriff sozialer Theatralität aus der theoretischen Reflexion heraus entwickelt wird, die Erprobung dieses neuen Begriffs, seiner Anwendbarkeit auf spezifisch gegenwärtige Phänomene und seine epistemische Tauglichkeit für theaterwissenschaftliche Gegenstände nun im Anschluss daran aber noch aussteht – auch wenn die Publikation zur Veranschaulichung hier und da auf kleinere Beispiele zurückgreift. Eines davon, eine persönliche Erinnerung Matthias Warstats, ist besonders einprägsam – nicht nur, weil darin das Teilen einer vorweihnachtlichen Bockwurst zur Reflektion über soziale Ungleichheit führt, sondern auch, weil sich das Beispiel aus der Erfahrung des Autors speist und so gerade die Reize und Fallstricke der analytischen Beschreibung von Theatralität und Gesellschaft aufzeigt: Wir sind alle darin verstrickt.
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