Claire Cochrane/Jo Robinson (Hg.): Theatre History and Historiography. Ethics, Evidence and Truth.

London: Palgrave Macmillan 2016. ISBN 978-1-137-45727-1. 220 S., Preis: £ 58,00 bzw. ca. € 69,00 [Ebook € 34,99].

Autor/innen

  • Theresa Eisele

Abstract

Als sich 2007 eine Arbeitsgruppe zusammenfand, um über "Ethics, Evidence and Truth" in der Theatergeschichtsschreibung nachzudenken, war noch nicht abzusehen, dass sich die abschließende Publikation des Projekts knapp zehn Jahre später wie ein Kommentar auf die gegenwärtige gesellschaftspolitische Wirklichkeit lesen wird. Die Forschungsgruppe der TaPRA (The Theatre and Performance Research Association) beschloss ihr Nachdenken über die ethischen Implikationen theaterhistoriographischen Arbeitens 2016 mit dem Sammelband "Theatre History and Historiography. Ethics, Evidence and Truth" – just in dem Jahr, in dem die Redaktion des Oxford English Dictionary "post-truth" zum internationalen Wort des Jahres wählte.[1] Das Wort bezeuge, so die Jurybegründung, "that truth itself has become irrelevant"[2].

Das Gegenteil fordert die vorliegende Publikation für die historiographische Arbeit ein. Der unbedingte Versuch, "historical truth" zu vermitteln, sei – entgegen postmoderner Einwendungen – die gemeinsame Basis für Geschichtsschreibende (S. 4). Zwei weitere Maximen vergegenwärtigt der Sammelband angesichts neuerlicher Aushandlungen über die Deutungshoheit von Geschichte: die verantwortungsvolle Beteiligung am Prozess der Geschichtsschreibung einerseits und andererseits die Verständigung über Vergangenheit aus der Gegenwart heraus. "History matters", postuliert die Gruppe für die Theatre Studies und wendet sich damit gleichsam gegen einen von David Wiles diagnostizierten "Presentism" (S. 3).

Dass eine ethisch verantwortungsvolle Historiographie theoretisch schnell gefordert, in der Praxis aber stetig neu zu justieren ist, zeigen die Beiträge des Bands allesamt. Angelegt in drei Teilen nähert er sich dem Komplex a-chronologisch und in 'kleinen Erzählungen': Jeder der insgesamt acht Autoren entwickelt größere ethische Fragestellungen am konkreten Material aus der eigenen Forschung heraus. Die Beitragenden – mehrheitlich aus den britischen Theatre Studies – eint dabei sowohl die Anerkennung von Geschichtsschreibung und Theater als sich bedingende soziale Praxen, als auch der Wunsch nach einem 'Ethical Turn' für die Theaterhistoriographie.

Im Sinne der mikrohistorischen Verfahrensweise eröffnet der erste Teil programmatisch mit dem Versuch, verfestigte Makronarrative aufzubrechen: Re-Writing (Master) Narratives – so der Titel von Teil 1 – steht programmatisch für die Beiträge von David Roberts, Rosemarie K. Bank und Vivien Gardner. Roberts nähert sich der Schwierigkeit biografischen Schreibens anhand der Schauspielerbiografie Thomas Bettertons. Banks unterzieht die Festschreibung einer US-amerikanischen Theaterfeindschaft im "langen 19. Jahrhundert" der kritischen Lektüre. Sie scheidet zwischen "anti-theatrical actions" und "anti-theatrical prejudice" (S. 49) und argumentiert, dass "actions", wie Stückzensur und Theaterschließungen, nicht notwendig auf eine generelle Befangenheit gegen Theater schließen lassen, sondern durch theaterfremde Faktoren motiviert gewesen sein könnten – das Narrativ der Theaterfeindlichkeit also durch Fakten allein nicht hinreichend gestützt sei. Eine Argumentation, die eine wichtige Sichtweise auf institutionell definierte Theaterfeindlichkeit betont, auf theateranthropologischer Ebene jedoch wiederum neu zu befragen wäre.

Viv Gardner beschließt Teil 1 mit einer kritischen Rückschau auf ihr eigenes Forschen zum 5. Marquis of Anglesey (1875–1905), bekannt für sein durch Loïe Fuller inspiriertes Tanzen. Für den Sammelband dekliniert Gardner ihre Wahrheit als eine mögliche Wahrheit zu dessen exzentrischen Leben, setzt die Ergebnisse in Beziehung zum Forschungsakt – und hat damit eine unkonventionelle aber besonders fruchtbare Form gefunden, den historiographischen Prozess mittels der Maximen "reliability" and "trust" (S. 61) praktisch nachvollziehbar zu machen. Schonungslos ehrlich lesen sich die kursiven Passagen des Artikels, in denen Gardner nach ihren – zum Teil autobiografisch motivierten – Auswahlkriterien fragt, Notizen ihres Arbeitstagebuchs preisgibt und Informationen korrigiert, die sie 2007 noch als gesichert weitergab. Gardner rekonstruiert das mediale Eigenleben ihres selbstgeschaffenen Narrativs, das in Folge eines Guardian-Artikels in Internet-, Print- und Radiobeiträgen proliferierte und – nun außer ihrer Kontrolle – fortgeschrieben wurde. Daraus schlussfolgernd warnt sie vor der Überinterpretation einer Person und plädiert für die Balance zwischen "'controlling' the narrative and keeping the past open and available for 'diverse purposes'" (S. 73).

Die folgenden drei Beiträge eint die Entscheidung der Herausgeberinnen, sie als 'Other' Histories in Teil 2 des Bands zu versammeln. Dabei wird das Einbringen marginalisierter Themen in den akademischen Diskurs als ethischer und politischer Akt zugleich markiert. Katherine Newey versteht ihre Fallstudie zu Frauen im viktorianischen England als Teil einer politischen feministischen Historiographie, als "Geschichte von unten". Jede der für die Studie ausgewählten Frauen stellt Newey vor ethische Fragen: So etwa die Theaterautorin Florence Bell (1851–1930), die gegen die Suffragetten-Bewegung ihrer Zeit agierte und damit auch die heutigen Positionen Neweys, die sich als "feminist historian" (S. 91) begreift, herausfordert.

In Poonam Trivedis Beitrag über das English Garrison Theatre im kolonialen Indien sind 'die Anderen' nicht die Kolonialisierten, sondern die Kolonisten; genauer: Laienschauspieler der Britischen Armee, die westliches Theater in Indien populär gemacht haben sollen. Trivedi bemängelt die Geschichtsschreibung über koloniales Theater. Dessen Geschichte sei bisher lediglich anekdotisch – von englischer Seite – oder verklärend – von indischer Seite – erzählt worden. Beides verdecke die historische Bedingtheit indischer und englischer Theatertradition und mache eine Geschichte der Kolonisatoren aus postkolonialer Perspektive umso dringlicher.

Mit der Perspektivierung eines Gegenstands und den damit verbundenen Setzungen beschäftigt sich auch Claire Cochrane. In Facing the Face of the Other zeichnet sie eine kurze Institutionsgeschichte des Nia Centre for African and Caribbean Culture nach und fragt nach den Gründen für dessen Schließung. Denn das Kunstforum, das 1991 in Manchester als erstes "black-led arts centre in Europe" (S. 121) gegründet wurde, scheiterte nach nur sechs Jahren wegen finanzieller Probleme. Cochrane positioniert sich selbst als "outsider historian" (139) mit "'white' skin pigmentation" (S. 125) und beschreibt dann endogene und exogene Faktoren für die Insolvenz, das aufgewühlte Umfeld des Projekts sowie die sozialen Erwartungen, die mit ihm verbunden waren. Sie lässt hierfür "Insider", d.h. "black perspectives", und "Outsider" (S. 139) zu Wort kommen und sieht sich als Wissenschaftlerin in der Verantwortung für ein ausgewogenes Gespräch zwischen verschiedenen Gruppen und Personen im multikulturellen Großbritannien.

Teil 3 beschließt den Band mit The Ethics of Evidence. Alison Jeffers und Heike Roms fragen nach den ethischen Herausforderungen von Erinnerung, Material und Archiv. Beide beschäftigt deren Subsistenz zwischen Verflüchtigung und Verfestigung. Alison Jeffers bettet ein Social-Archiving-Projekt rund um ein Graffito in Nord-Belfast in theoretische Überlegungen zu kollektivem Gedächtnis. Mit Foucaults Urteil – "es gibt kein unschuldiges Archiv" – fragt sie nach den ethischen Grenzen, das Graffito aus der Zeit des Nordirlandkonflikts für die Menschen der benachbarten Wohnsiedlung als soziales Archiv fruchtbar zu machen. Heike Roms führt abschließend Performance, Ethics und Memory eng, indem sie die performative Seite sowohl von Erinnerung als auch von historischen Zeugnissen betont und hierin Wege für künstlerische Forschung (Artistic Research) sieht: Performative Formate könnten die Hierarchien zwischen Wissenschaftlern, deren untersuchten Subjekten und den Rezipienten neu herausfordern.

Der Bogen, den der Sammelband – von der neuzeitlichen Schauspielerbiografie bis zu gegenwärtigen Performances – spannt, ist groß, der gemeinsame wissenschaftsethische Nenner weit gefasst. Man mag darüber und über die Tatsache verzweifeln, dass Geschichtsschreibung als kulturelle und damit auch ethische Praxis eine relative Angelegenheit ist; Gegenstände, Kontexte und Interpretationen verwoben sind und auch "historical truth" keine Letztgültigkeit beanspruchen kann – oder gerade darin den Reiz der eigenen Arbeit und der vorliegenden Publikation erkennen. Für sich genommen bieten die Beiträge zweierlei: Die konkrete inhaltliche Beschäftigung mit sehr diversen (zeit)historischen Gegenständen sowie die theoretische Reflektion darüber. So liest sich der Band gleichermaßen als Werkstattbericht und Protokoll eines Status quo der angelsächsischen Theaterhistoriographie.

Das Ausstellen wissenschaftlichen Forschens als work in progress und das Einfordern eines ethischen Umgangs mit historischen Subjekten und historiographischen Positionen sind die Errungenschaften der Publikation. Sie zeigt aber auch, wie schwer es ist, eben jene Formeln vom "reflektierten Umgang" und von "verantwortungsvoller Haltung" ins konkrete zu wenden. Die verschiedenen Verständnisse vom Gegenstand Theater, die der Sammelband ebenso spiegelt wie die Perspektiven- und Theorienvielfalt der Theatre Studies, erschweren das gemeinsame Nachdenken über ethische Grundlagen zusätzlich. Sie machen das Abstecken eines Grundes, auf dem sich theaterhistorisches Forschen bewegt, aber umso notwendiger. Denn zuvorderst findet nur das, was als Theater untersucht wird, Eingang in Theatergeschichtsschreibung. Es mag dann genau an diesem gemeinsamen Grund liegen, ob sich die Summe der einzelnen Teile – etwa die, des breit aufgestellten Sammelbands – in der Betrachtung zum Kaleidoskop fügt oder als Flickenteppich geriert.

---

[1] Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte im selben Jahr "postfaktisch" zum Wort des Jahres.

[2] English Oxford Dictonaries, URL: https://en.oxforddictionaries.com/word-of-the-year/word-of-the-year-2016 [Zugriff 20.04.2017]. 

Autor/innen-Biografie

Theresa Eisele

Studium der Theaterwissenschaft sowie der Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Madrid. 2014–2016 wissenschaftliche Hilfskraft am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur und redaktionelle Tätigkeiten für das Projekt "Europäische Traditionen – Enzyklopädie jüdischer Kulturen" der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (SAW). Lehrtätigkeit am Institut für Theaterwissenschaft Leipzig. Studienbegleitend journalistische Ausbildung im Rahmen des Dr.-Hans-Kapfinger-Stipendiums. 2015/16 Redakteurin beim Stadtmagazin Kreuzer, Leipzig. Seit Juni 2016 Universitätsassistentin in Ausbildung (Prae Doc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien.

Publikationen:

–, "Gottes Mechaniker. Die Puppen des Francisco Sanz Baldovi". In: double. Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater 33/4, April 2016, S. 16f.

–, "Unerwünschte Uraufführungen: Das "Deutsche Miserere" und die "Jüdische Chronik" 1966 in Leipzig". In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 14, 2015, S. 195–217.

–, mit Brigitte Dalinger, "Welttheater". In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der sächsischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 6: Te-Z, hg. von Dan Diner. Stuttgart 2015, S. 361–366.

–, "Rhapsody in Blue". In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der sächsischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 5: Pr–Sy, hg. von Dan Diner. Stuttgart 2014, S. 209–215.

–, "Sterbende Stiere; oder von der Kunst des aufgeklärten Todes". In: Tierstudien 5, April 2014, S. 103–116.

Veröffentlicht

2017-05-31

Ausgabe

Rubrik

Theater