Milo Rau/NTGent (Kaatje de Geest, Carmen Hornbostel, Milo Rau) (Hg.): Why Theatre?

Berlin: Verbrecher 2021. ISBN 9783957324580. 368 S., Preis: € 16,–.

Autor/innen

  • Theresa Eisele

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-04

Abstract

Als im Frühjahr 2020 die Covid-19-Pandemie zu Theaterschließungen führte, provozierte das im Kulturbereich eine paradoxe Geschäftigkeit im Stillstand: Wer es sich leisten konnte, hielt inne und kontemplierte über den Sinn der eigenen Tätigkeit oder die soziale Existenz. Parallel wurde die Starre des Lockdowns mit Streamings, Lesungen und Videokonferenzen gefüllt, in denen sich des Daseins versichert oder auf eine Zeit vor und nach der Pandemie referenziert wurde, die es zu bewahren oder umzukrempeln galt. Das Buch Why Theatre? ist ein vielschichtiges Produkt dieser ersten Phase der Pandemie. Initiiert vom künstlerischen Leitungsteam des Nationaltheaters Gent, versammelt es 106 kurze Statements von Theatermacher*innen zu der großen Frage: Why Theatre? Angesichts des Lockdowns, der auch die Theater betraf, unternahmen die eingeladenen Künstler*innen genau diese produktive Kontemplation. Entstanden sind kurze Mediationen auf Form und Funktion, Sinn und Unsinn, Vergangenheit und Zukunft von Theater als einer künstlerischen, aber auch als einer kulturellen und sozialen Praktik, die während der Pandemie ihres sozialen Sinns kurzfristig verlustig zu gehen schien.

Die knappe Frage – warum Theater? – provozierte dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten. Sie kommen in großen Begriffen oder als poetische Erinnerung daher; sie sind als politisches Statement konzipiert oder versuchen die definitorische Bestimmung von Theater generell. Der Dramaturg und (Ex-)Intendant Matthias Lilienthal findet im Theater das Laboratorium einer künftigen Gesellschaft, die brasilianische Regisseurin Cibele Forjaz hingegen den "Molotov cocktail for the polis" (S. 89). Theater sei – so Florian Malzacher – "a place to come together", an "agonistic arena" (S.  70/172). Während andere die soziale Situation oder die Präsenz potenziell infektiöser Körper (Oliver Frljić) betonen. Theater ist, folgt man den Statements des Buchs lose weiter, a "promise to take you on my back" (Carole Umulinga Karemera, S. 321), "the modification of the real" (S. 100, Julien Gosselin) oder "a strange thing that humans do" (Nature Theatre of Oklahoma, S. 63). Es ist aber auch "old-fashioned" (Joanna Warsza, S. 352) oder – so Mihaela Drăgan kurz und bündig – ideologisch. Oft wird Theater in positiver Wendung mit Kampf gegen Formen von Unterdrückung in Verbindung gebracht. Wie Douglas Estevam, so adressieren einige in kriegerischem Vokabular Theater als Waffe, als "rehearsal of the revolution" (S. 84). Andere betonen heilende oder einende Kräfte von Theater. Viele konzeptualisieren es als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse.

Manche befragen aber auch die Sinnhaftigkeit der Ausgangsfrage überhaupt. Frie Leysen antwortet mit einer Kaskade an Gegenfragen: "why beauty? why migration? […] why sea stars?" (S. 158f.). Angelica Liddell bezieht sich auf die mythische Qualität ihrer Arbeit und findet darum: "there is no such thing as 'why' or 'what for' theatre. Rather […] it unfolds like any spiritual experience in a 'je ne sais quoi'". (S. 160). James Leadbitter und Jan Lauwers versuchen sich an der Provokation, wenn sie Theater ins Museum oder gleich ganz verbannen wollen ("Alright. Let’s call it a day. Away with theatre." Jan Lauwers, S. 148). Gerade die radikalen Statements für und wider Theater aber zeigen auch, dass im Buch und unter den Künstler*innen selbst keinesfalls Einigkeit darüber besteht, was Theater überhaupt sei. Wobei sich Brechts Klage davon, dass Theater immer Theater heiße, als "wenn es nicht immerfort etwas anderes wäre" (Brecht, Grüße an das Reußische Theater, 1927) im Buch en passant darlegt.

So hängt die Beantwortung der Frage von der eigenen Perspektive und vom jeweiligen Theaterbegriff ab. James Leadbitter von The Vacuum Cleaner meint vom eurozentrischen Standpunkt die bürgerliche Institution Theater, wenn er schreibt: "No one goes to the theatre anymore because it's just for rich dicks. Who cares?" (S. 156). Mamela Nyamza spricht auch von Theater, meint aber explizit kein Gebäude und keine Institution, sondern ein "embodiment of art of all genres" (S. 222). Die Performerin Luanda Casella kontrastiert die Institution mit einem schamanischen Ritual, während Gisele Vienne über Performanz im Alltag schreibt. Die Philosophin Chantal Mouffe wiederum findet im Theater – als Praxis – ein Instrument gegen neoliberale Hegemonie, wobei andere gerade davor warnen, mit Theater – als Betrieb begriffen – den Status quo zu zementieren.

Viele der Stimmen kommen von den großen Namen des Festivalbetriebs, die hier ihr Theaterverständnis darlegen – René Pollesch, Katie Mitchell, Susanne Kennedy oder der Herausgeber des Buchs, Milo Rau, selbst. Die gegenwärtige Garde der europäischen Theaterszene wird ergänzt um Stimmen der älteren Generation, etwa von Ariane Mnouchkine oder Botho Strauß. Die Einladungen dieser Theatermacher*innen spiegelt zunächst das Netzwerk des Herausgeber*innen-Teams um Rau, seit 2018 Intendant des Nationaltheaters Gent, der den Band gemeinsam mit der künstlerischen Co-Leiterin Kaatje de Geest und der Dramaturgin Carmen Hornbostel konzipierte.

Der Impuls für die Publikation, im Frühjahr 2020 nach dem Sinn von Theater zu fragen, kommt damit aus einem institutionalisierten europäischen Theaterbetrieb, in dem die Schließung der "Institution" Theater besonders einschneidend erfahren wurde. Why Theatre? ist damit zunächst Produkt der Covid-19-Pandemie in ihrer frühen Phase, als die Schließungen von Theatern Künstler*innen einerseits die Gelegenheit gab, auf sich zurückgeworfen über die eigene Arbeit nachzudenken, andererseits Befürchtungen bestätigt oder Ahnungen genährt wurden, Kultur werde künftig nachrangig oder noch nachrangiger behandelt als zuvor. Besonders reichhaltig aber wird der Band, wenn er über diese Perspektive hinausgeht und Antworten von Theatermacher*innen und Aktivist*innen jenseits eines Europas inmitten einer Covid-19-Gegenwart einbezieht. So berichtet der Künstler William Kentridge von den 1980er Jahren in Südafrika, als die Frage nach dem Warum von Theater ganz einfach zu beantworten war: weil damit die Zensur der Apartheid umgangen wurde. "Many things could be said and shown on stage that could not be said and shown in the media […] In South Africa at that time theatre became a vital part of daily life" (S. 136). Der Regisseur Amir Reza Koohestani findet im Theater einen Schutzraum, in dem er sich den Zuschreibungen gegen ihn als einem "Fremden" entziehen kann.

Es ist gerade die Vielfalt der Stimmen, die Einbindung von Schauspieler*innen und Regisseur*innen genauso wie von Autor*innen und Aktivist*innen, die die hegemonialen Perspektiven des deutschsprachigen oder europäischen Raums brechen, sie ins Verhältnis setzen, distanzieren und so ein komplexeres Bild dessen eröffnen, was Theater sein kann. Gerade diese Mannigfaltigkeit macht den Band über die reflexhafte Beschäftigung mit dem eigenen Tun im Frühjahr 2020 hinaus fruchtbar. Spannend sind dabei einzelne Perspektiven und Wortmeldungen, aber auch der Querschnitt.

In der Zusammenschau fällt etwa auf, dass Theatermacher*innen ganz unterschiedlicher Ästhetiken und Traditionen mit Konzepten von Präsenz, Praxis und Körper, aber auch mit dem Begriff der Wahrheit umgehen. Milo Rau konzeptualisiert Theater beispielsweise bereits im Titel seines Statements als "place of truth" (S. 262) und Ariane Mnouchkine findet in ihrem Théâtre du Soleil "the truth of life" und fügt an: "I think that is theatre. There's no reconstruction at all" (S. 180). Während Chokri Ben Chikha sich auf die Suche nach einer künstlerischen "theatrical truth" begibt, die eine freie Perspektive auf die Welt ermögliche (S. 40). Auch die Referenz auf Shakespeare – und insbesondere Hamlet – zieht sich durch die verschiedenen internationalen Statements. Entweder, um die eigene Position zu beglaubigen oder, um sich an der übermächtigen Autorität Shakespeares abzuarbeiten, sie gar – wie es Radha D'Souza tut – zurückzuweisen: "Mr. Shakespeare, you are wrong. The actors are more important than the stage" (S. 72). Fragen von Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit mittels Theater sind gleichfalls eine Konstante in den einzelnen Positionen. Der Autor Édouard Louis beschreibt etwa eindrücklich sein Aufwachsen in einer heteronormativen Welt als das eines Schauspielers: "like many LGBTQ persons, I was born as an actor, in spite of myself […] Theatre gave me a weapon to fight the system I was living in, to change my reality" (S. 168). Mihaela Drăgan schöpft Kraft daraus, sich mit ihrem Körper – der als "Roma body" gelesen wird – Zugehörigkeit theatral zu erstreiten, Räume zu besetzen, in denen sie nicht vorgesehen war (S. 70).

Damit legen die Statements auch offen, dass sich die Ausgangsfrage der Publikation Why Theatre? für viele gar nicht gestellt hat, weil Theater (als soziale Praxis) selbstverständlicher oder gar notwendiger Teil ihres politischen oder alltäglichen Lebens ist. Möglicherweise wurde die Frage durch die Pandemie aber auch nebenbei beantwortet ("why not?", Miet Warlop, S. 350) und so landet die Publikation in den einzelnen Wortmeldungen immer wieder bei jenen Themen, die der Warum-Frage vor- und nachgelagert sind, nämlich: welches Theater? Und wie?

Gerade der Modus des Innehaltens im Frühjahr 2020 hat hier verstärkter den distanzierenden Blick auf die Betriebsbedingungen des Theatermachens selbst gelenkt, die nun in den Statements umso vehementer angeprangert werden. Katie Mitchell, Jérôme Bel oder Sascha Waltz thematisieren die Verwobenheit von Theaterproduktion und Klimakatastrophe. Bel macht diese anhand einer Wiener Theaterproduktion plastisch: "I was attending a show and all of a sudden I started to 'calculate' the carbon footprint of the show […] I realized that I was watching hell." – wobei er sich gegen seine Generation wendet: "most of the people I know who have a dominant position in the field of choreography […] will not change anything. […] They make ecological speeches, sign petitions because they are famous, without producing any action." (S. 37) Die Künstlerin Mamela Nyamza aus Kapstadt wendet den Blick von ästhetischen und künstlerischen Fragen ebenfalls weg zu den Produktionsbedingungen von Theater und fordert eindringlich eine Abkehr von den patriarchalen Machtstrukturen, die Theater als Institution durchziehen: "as we approach the stage of post-Covid-19, it is demanded of us […] to shout against a theatre of patriarchy, patronage, nepotism and corruption" (S. 224). Tim Etchells adressiert ebenso kapitalistische Logiken von Theater und Nicoleta Esinencu verfasst ein Gedicht, das sich wütend gegen den Betrieb und gegen das Buch selbst wendet (S. 76–81):

Making productions under inhumane conditions
Work is done during the day
And night
And in the morning
At all costs
[…]
The walls of theatres reek of director’s sperm
Mixed with our fear of saying
Metoo
[…]
When I received the invitation to write this text
They didn't tell me I would be paid for it
Why would we also be paid?
Won't you write a text since you're staying home anyway?
Just like domestic labour
Unpaid
A pleasure?
A hobby?
An honour?

Damit ist das Buch nicht nur eine Art lexikalische Textsammlung geworden, in der bekannte Theatermacher*innen der globalen Festivalszene ein Selbstbekenntnis abgeben und das eigene Tun darlegen. Sondern die Publikation birgt auch einen großen Aufgabenkatalog zur Veränderung des Systems Theater. Sie regt an, die Reproduktion patriarchaler und neoliberaler Machtstrukturen innerhalb institutionalisierter Praxis nicht hinzunehmen – und sie bietet vielfältige Perspektiven auf ein vermeintlich so einfaches Wort: Theater. Der iranische Theaterregisseur Amir Reza Koohestani hat dabei die Lektüreerfahrung schon im Vorhinein antizipiert, als er schrieb:

"I have a strong feeling that when this book is released, and I read it, I will be saying 'ah!' and 'yes, exactly' for it is much easier to find your answers in what others have written than to write your own" (S. 138).

Autor/innen-Biografie

Theresa Eisele

Theresa Eisele ist Universitätsassistentin (Postdoc) am tfm der Universität Wien. Zuvor war sie u. a. am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin (Marietta-Blau-Stipendium), als Forschungsstipendiatin bei der Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf sowie am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur tätig. Seit 2014 Lehrtätigkeiten in Leipzig, Wien und Berlin; daneben Archivaufenthalte, u.a. in Jerusalem, Mitwirkung an der Enzyklopädie Jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK, Sächsische Akademie der Wissenschaften) sowie am Labor der Wiener Festwochen 2021. Forschungsschwerpunkte in der kulturwissenschaftlich und historisch informierten Theaterforschung; Arbeiten u.a. zur Theatergeschichte Wiens des 19. und 20. Jahrhunderts, zur historischen Anthropologie und jüdischen Geschichte.

 

Publikationen

–, Szenen der Wiener Moderne. Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen. Mit einem Vorwort von Yfaat Weiss (toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, Bd. 14). Göttingen 2021.

–, zus. mit Stefan Hofmann: "Natural Born Actors" on the Screen: Das alte Gesetz (1923) and the Theatricality of the Modern Jewish Experience. In: Sarah Roos/Regina Randhofer (Hg.), Armenian and Jewish Experience between Expulsion and Destruction (European-Jewish Studies Contributions, hg. vom Moses Mendelssohn Zentrum in Kooperation mit dem Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, Bd. 51), Oldenburg 2022, S. 131–154.

–, "Außenseiter mittendrin. Perspektiven auf den Nachlass von Felix Salten". In: Jüdische Geschichte und Kultur. Magazin des Dubnow-Instituts 5 (2021), S. 60–61.

–, "Zersetztes Zelluloid, virulente Vorstellungen: Die Restaurierung von 'Die Stadt ohne Juden'". In: Jüdische Geschichte und Kultur. Magazin des Dubnow-Instituts 2, S. 48–51.

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Veröffentlicht

2022-05-18

Ausgabe

Rubrik

Theater