Klaus Hödl: Zwischen Wienerlied und Der Kleine Kohn. Juden in der Wiener populären Kultur um 1900.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. (Reihe: Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Bd. 27). ISBN 978-3-525-57052-4. 207 S., Preis: € 22,–.
Abstract
Von Krötenschluckern, Volkssängern und Zauberkünstlern: Die neue Monographie von Klaus Hödl rückt eindrücklich die Wiener Volkssängerszene um 1900 in den Fokus der Geschichtsschreibung. In kleinen Fallbeispielen erzählt sie vom Zwist unter Volkssängern, der sich zum "Krieg" auswächst, von Theatermanuskripten und der sozialen Lage von Künstlerinnen und Künstlern. Die Publikation zielt dabei auf die Beschreibung jüdischen Engagements in der populären Kultur und der so ermöglichten kulturellen Begegnung zwischen Juden und Nicht-Juden. In diesem Sinn erweist sich der Untertitel Juden in der Wiener populären Kultur um 1900 als programmatisch.
Ausgehend von der Feststellung, dass "jüdische Zauberer und Krötenschlucker bislang kaum ein Thema für Untersuchungen dargestellt haben" (S. 22), schließt Klaus Hödl – Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz – mit dieser Monographie an eigene Arbeiten zu "jüdischer Differenz" und Populärkultur an. Er erprobt diese im Feld der Volkssänger- und Varietészene in Wien um 1900. In Form von kleinen Erzählungen und Episoden sowie kurzen Stück- und Institutionsgeschichten soll insbesondere eine übergreifende These untermauert werden: Wiener Populärkultur werde, laut Hödl, von Kontakten und Interaktionen zwischen Zugewanderten untereinander und der ansässigen Bevölkerung geprägt. Die Grenzen zwischen "jüdischer und nichtjüdischer Sphäre" (S. 16) seien dabei eher durchlässig als solide und mit dichotomischen Annäherungen kaum zu fassen. Sie würden, ebenso wie das Verständnis vom Jüdisch-Sein, stetig ausgehandelt und müssten damit auch permanent neu kontextualisiert werden.
Das von Hödl markierte Forschungsdesiderat jüdischen Engagements in der Wiener Populärkultur soll mit der Publikation historiographisch erschlossen werden und gängige Narrative über die Wiener Jahrhundertwende ergänzen. So macht der Autor ein unvollständiges Bild über die Wiener Judenschaft aus, das hauptsächlich über das "Akkulturationsnarrativ" oder die "Verbürgerlichung" (S. 22) von Juden gezeichnet worden sei. Bisherige Arbeiten hätten mehr jüdisches Leben und antisemitische Anwürfe akzentuiert, dabei das Zusammenleben und -arbeiten von Juden und Nicht-Juden hintangestellt.
Jenes gemeinsame Wirken in der Wiener Populärkultur perspektiviert die Publikation in fünf Kapiteln – beginnend mit einleitenden Überlegungen zu "Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat". Darin wendet Hödl das beklagte Desiderat produktiv, indem er nach den Gründen für die Forschungslücke fragt und vier davon anführt. Alle vier scheinen bedenkenswert, wenn auch nicht gleichermaßen tragfähig. So ist die "subversive Dimension der Populärkultur" (S. 32) sicher ein wichtiger Faktor für historiographische Auslassungen, verweigert sie sich doch einem bürgerlichen Theaterverständnis und fügt sich damit auch schlecht ein in "Reformtheatergeschichtsschreibung" (Stefan Hulfeld). Dass die von Hödl so benannte "Akkulturationsgeschichtsschreibung" (S. 34) den Blick auf Populärkultur zugunsten einer stärker akzentuierten "Hochkultur" verstellt habe, die Geschichtsschreibung über Wiener Juden also bislang mehrheitlich auf bürgerliche Kultur fokussiert wurde, fügt sich ein in die Historiographie zur Wiener Moderne insgesamt, die zunächst das jüdische Engagement in der "Hochkultur" des seit den 1980er Jahren neu entdeckten Fin de Siècle betonte und so wichtige Impulse setzte. Dass der Blick gegenwärtig über diesen Kultur- und Epochenbegriff hinausgehen kann, ist auch Produkt von und Reaktion auf Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre. Die Engführung der Historiographien zu Wiener Juden im Kontext der Geschichtsnarrative über die Moderne könnte hier weiterführend erhellend sein.
Zwei weitere von Hödl angeführte Gründe für das Desiderat zielen auf Rechercheschwierigkeiten. So seien erstens die erschwerte "Identifizierung jüdischer Kulturschaffender in der Populärkultur" (S. 28) und zweitens "Auslassungen in jüdischen Zeitungen" (S. 41) für die Forschungslücke mit verantwortlich. Künstlernamen verdeckten das Jüdisch-Sein der betreffenden Personen und beeinträchtigten so die Forschungen zu Juden in der Populärkultur. Ein Grund, der berechtigt sein mag, aber dann gleichermaßen für andere, bereits gut erforschte Bereiche gelten müsste, bedenkt man die gängige Praxis der Namensänderung und -angleichung (Max Reinhardt als geborener Goldmann ist nur ein mittlerweile bekanntes Beispiel hierfür).
Die vierte und letzte Erklärung für die Forschungslücke wirft die wichtige Frage nach der Quellenlage insgesamt auf: Da Historiker der jüdischen Geschichte, so Hödl, mehrheitlich jüdische Zeitungen rezipierten, dort Populärkultur aber nicht verhandelt werde, bleibe diese auch in der Geschichtsschreibung ein blinder Fleck. Dass Hödl selbst aber hauptsächlich auf eine beschränkte Auswahl an Quellen – auf Notizen im Illustrierten Wiener Extrablatt und in der Zeitschrift Variété – zurückgreifen muss, legt vielmehr die Frage nahe, ob Populärkultur nicht insgesamt weniger in Zeitungen und Schriftkultur stattfindet, allein deswegen schwerer zu erforschen und oft nur mit Hilfe interdisziplinärer Zugänge zu erhellen ist. So sind die Spuren populärkultureller Aktivitäten auch im von Hödl herangezogenen Extrablatt mehrheitlich rudimentär. Vom gut dokumentierten "Volkssängerkrieg" abgesehen, erlauben die Hinweise darin oft nur Rückschlüsse darauf, dass etwas, aber kaum wie es stattgefunden hat. Während Produktionen des Burgtheaters oder der Hofoper breit besprochen werden, scheinen jene populärkultureller Bühnen meist nur im Vergnügungs-Anzeiger in Form von Werbeanzeigen auf.
Das zweite Kapitel thematisiert "Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900", stellt etwa die Folies Comiques, die Lemberger Singspiel-Gesellschaft und die Gesellschaften Hirsch und Kassina samt deren wichtigsten Mitwirkenden, Stücktiteln und Inhalten im Modus eines grundlegenden Überblicks vor – um dann im Folgekapitel zu "Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern" die Perspektive auf den Volkssänger Albert Hirsch und den sich um ihn entzündenden "Volkssängerkrieg" zu verengen. Anhand dieses Konflikts, der sich im Wesentlichen um Fragen der Lizenzierung und Konkurrenz von zugereisten Gruppen drehte, skizziert Hödl nicht nur detail- und kenntnisreich alltagsweltliche Umstände der Szene, sondern gewährt auch einen Einblick in soziale und politische Problemlagen im Kontext der Moderne. Die im Wesentlichen anhand von Zeitungsnotizen aus dem Illustrierten Wiener Extrablatt rekonstruierten Streitpunkte, Ereignisse und Versammlungen, heben nicht nur einen bislang nicht erschlossenen Quellenschatz zur Wiener Volkssängerszene um 1900 auf anschauliche Weise, sondern machen auch das bislang kaum thematisierte Wirken des jüdischen Artisten Albert Hirsch zugänglich. Hirschs jüdisches Selbstverständnis wird dabei anlässlich des "Volkssängerkriegs" als fragmentiert und nichtreligiös dargelegt, das performativ – das heißt durch Handlungen – zum Ausdruck komme. Die Publikation erarbeitet damit eine "performative Differenz" (S. 93), nach der Jüdisch-Sein vor allem in Handlungen und deren Auswirkungen manifest werde und demnach nicht essentialistisch, sondern inklusiv und kontextabhängig argumentiert werden könne.
Kapitel 4 soll diese handlungsabhängige Differenz von Juden zu Nicht-Juden um eine raumzeitliche Dimension erweitern, indem es nach "Jüdischen Fluchtorten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert" fragt. Es skizziert den Versuch der jüdischen Teilhabe am Topos "Alt-Wien" ebenso wie ein spezifisches Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit als Differenzmerkmal anhand von Stück- und Liedtexten, etwa dem titelgebenden Kleinen Kohn. Für die Argumentation einer "performativen Differenz" sowie eines spezifischen Zeit- und Raumverständnisses wäre es weiterführend dienlich – wie etwa durch den Einbezug der Gemälde Tina Blaus in diesem Kapitel geschehen – ikonographische Quellen und Methoden jenseits der Textexegese heranzuziehen.
Insbesondere die inhaltliche Wiedergabe der Stücktexte im zweiten Kapitel erfordert, sollen diese Aussagekraft für jüdische Selbst- und Fremdzuschreibungen auch jenseits des Texts gewinnen, den Einbezug weiterer Dimensionen, die über textimmanente Handlungsbeschreibungen hinaus- und in Schauspielpraxis, Raum- und Bildtheorie sowie Rezeption hineinreichen. Die Feststellung beispielsweise, der Bezug auf die Nase sei in der Volkssängerszene nicht antisemitisch konnotiert, sondern entwerte das antisemitische Vorurteil, ist sicher durch Textanalysen Hödls gestützt, könnte aber zusätzlich durch Annäherungen an Spielpraktiken und Rezeptionsweisen untermauert werden. Auch die Schlüsse auf Publikumsstrukturen offenbaren neuerlich eine Forschungslücke, der nur mit vielschichtigem Quellenmaterial und gut argumentierten Hypothesen beizukommen ist. Die Behauptung etwa, das Publikum der Polnischen habe vor allem aus "galizischen und anderen osteuropäisch-jüdischen Zuwanderern" bestanden, weil die Gruppe selbst "zwischen den Broder Sängern […] und Wiener Volkssängern eingeordnet werden muss" (S. 66), scheint als erste Arbeitshypothese möglich, aber kaum als Argumentation zureichend.
Im Schlusskapitel "Von der Differenz zur Ähnlichkeit" legt Hödl nochmals Merkmale jüdischen Selbstverständnisses dar und sucht dieses methodisch zwischen Konzepten von Differenz und Ähnlichkeit zu verorten. Jüdisch-Sein artikuliere sich demnach in der Interaktion, es trete performativ zutage und sei gerade aufgrund dessen inklusiv (da jeder diese Handlungen ausführen könne) und weniger inhaltsbasiert. Diese so benannte inklusive Differenz sei demnach auch als "Ähnlichkeit" (S. 189) zu bezeichnen; ein Konzept, das graduelle Verschiedenheit jenseits binärer Gegensätze zu beschreiben suche und so auch "Vorstellungen von der Fremdheit von Juden" (S. 189) untergrabe.
Hödl endet schließlich mit seiner Eingangsthese, die Volkssängerszene sei mehr von Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden denn von antijüdischen Feindseligkeiten geprägt gewesen, und mit einem Plädoyer für ein kontextabhängiges variables Verständnis von Jüdisch-Sein, das das Buch gleichsam durchzieht. Die Publikation ist hierfür folgerichtig in kleinere Erzählungen strukturiert, in denen Hödl umfassend historisches Wissen aufzeigt sowie mit Faktenreichtum und einem plastischen, präzis und klar formulierten Einblick in alltagsweltliche Belange der Wiener Moderne überzeugt. So eignet sich die Publikation auch als kurzweilige, ansprechende Lektüre, die nebenbei Wissen birgt, das bislang in Zeitungen und Archiven lagerte.
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