Sonia Gollance: It Could Lead to Dancing. Mixed-Sex Dancing and Jewish Modernity.

Redwood City, CA: Stanford University Press 2021. ISBN: 978-1-5036-1349-2. 296 Seiten, 65,00 $. DOI: 10.11126/stanford/9781503613492.001.0001.

Autor/innen

  • Theresa Eisele

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2023-1-01

Abstract

Die Arbeit von Sonia Gollance beginnt mit einem Witz, der zugleich titelgebend ist: er handelt von einem Mann, der kurz vor der Hochzeit seinen Rabbiner zur Sexualberatung aufsucht. Gemeinsam gehen die beiden zahlreiche sexuelle Vorlieben durch, die der Rabbi alle begeistert abnickt. Ob die Mitzwa des Geschlechtsverkehrs auch im Stehen vollzogen werden könne, fragt der Mann schließlich couragiert. "Absolutely not!", ist der Rabbi entsetzt: "It could lead to mixed dancing." (S. 1)

Sonia Gollance nimmt diesen Witz, der in verschiedensten Variationen erzählt wird, als Ausgangspunkt für ihre Studie zum transgressiven Potential von Tanz für die jüdische Bevölkerung der Moderne. In ihrem Buch It Could Lead to Dancing. Mixed-sex Dancing and Jewish Modernity entfaltet Gollance die Zusammenhänge von Gesellschaftstanz, sozialer Zugehörigkeit und jüdischer Akkulturation. Sie zeigt dabei auf gelungene Weise, wie Akkulturation tänzerisch vollzogen wurde, wobei gerade die körperlichen Praktiken des Tanzens von jüdischen Autoritäten wie von den Umgebungsgesellschaften in der Diaspora argwöhnisch beäugt waren.

Der zitierte Witz zeugt davon. Dass ihn Gollance ihrer Studie vorwegstellt, ist dabei nicht nur inhaltlich sinnig, sondern auch methodisch folgerichtig: wertet Gollance doch in einem Zeitraum von rund 160 Jahren (1780–1940) insbesondere tradierte Geschichten, Anekdoten, vor allem aber populäre Literatur – kurzum: Erzählungen – aus, in denen Wissen um den Gesellschaftstanz als Motiv und Movens sozialer Prozesse kondensiert ist. Im Witz um die Sexualberatung des Rabbiners, aber auch in Romanen, in Ratgebern, Verbotsschriften und Egodokumenten spürt Gollance den Motiven, Funktionen und Bedeutungen des Tanzens für die jüdische Bevölkerung des 19. und 20. Jahrhunderts nach. Die Studie fokussiert damit auf eine Zeit, in der Juden und Jüdinnen nicht mehr sichtbar "Fremde" waren, sondern Teil einer modernen, bürgerlichen Gesellschaft wurden, von der sie für kurze Zeit annahmen, sie könnten gleichberechtigt an ihr teilnehmen. Der Tanz als Erzählmotiv – so Gollances Argument – berichtet von dieser sich wandelnden Gesellschaftsstruktur, von den Hoffnungen der jüdischen Bevölkerung auf Teilhabe, aber auch von innerjüdischen Diskursen, von Klassenunterschieden und Geschlechtervorstellungen. Mittels Tanz wurden Ideen sozialer Zugehörigkeit, Rechte um Staatsbürgerlichkeit und Regeln des Miteinanders verhandelt, die in der Moderne heterogen und oft auch widerstreitend aufeinander trafen.

All das entfaltet Gollance in ihrem Buch in zwei Teilen und sechs Kapiteln. Teil 1 skizziert zunächst en gros das Argument der Konnexe von Tanz und jüdischer Akkulturation bzw. gesellschaftlicher Modernität. Überzeugend positioniert sie dabei die Tanzfläche als "microcosm of Jewish integration into broader society". (S. 21) Juden und Jüdinnen zeigten, so Gollance, mit ihrer Teilnahme am Gesellschaftstanz (heterosozial zwischen Mann und Frau getanzt in sogenannter "Christian fashion", S. 30) ihr Engagement für die europäische Moderne.

Während sich rabbinische Autoritäten weiter für ein Verbot des Tanzens zwischen den Geschlechtern aussprachen und der Tanz als Gefahr für tradierte Sozialordnungen auch Eingang in populäre Literatur fand. Tanz, so führt Teil 1 aus, wird zum Leitmotiv gesellschaftlicher Transformation, er markiert utopisch das (bürgerliche) Zusammenleben aller, zeigt aber auch die Grenzen dieser Utopie für die jüdische Bevölkerung auf; etwa, wenn die Breslauer Morgenzeitung 1876 berichtet, wie christliche und jüdische Kaufleute miteinander „diniert, soupiert und spousiert“, aber dennoch nie gemeinsam getanzt hätten. (S. 28) Tanz markiert damit die letzte Schwelle hin zur Akzeptanz, den greifbaren Aufstieg in eine neue soziale Schicht; zugleich werden mit ihm geschlechtliche Erwartungen und Ideen vom jüdischen Körper eingeschrieben und transportiert. Tanz ist also zentrales Motiv der jüdischen Erfahrung in der Moderne und zugleich "embodied acculturation" (S. 40), die sich auch als Choreographie lesen lässt.

Vor dem Hintergrund dieser Setzungen skizziert Gollance, wie die jüdische Bevölkerung in der europäischen Moderne "das Tanzen lernte". In ihren Quellen stößt sie dabei auf allerhand Erzählungen – etwa Vicki Baums Der Knabe und die Tänzerin (1924) – in denen ein geschlechtlich kodierter und als mangelhaft markierter "jüdischer Körper" an der embodied acculturation des Tanzes scheitert; und diesen folglich erst erlernen muss. Private Wohnzimmer-Zusammenkünfte, Hochzeitsfeiern, aber auch Tanzschulen machten es möglich, das Tanzen zu lernen; wobei dieser Lernprozess meist nicht ohne soziale Hindernisse, Zurückweisungen oder gar Anfeindungen von statten ging. Juden und Jüdinnen drückten im Tanz ihre Sehnsucht danach aus, der traditionellen Gemeinschaft zu entkommen (vgl. Shimen Bekerman, Der tants klas, 1914). Sie verliebten sich dabei oder fanden Ehepartner*innen; stießen aber auch auf Kritik und Zurückweisung, die sich gegen Tanz als "nutzlose Tätigkeit" oder antisemitisch gegen die Tanzenden selbst und ihre vermeintlich "jüdische Erscheinung" richtete (vgl. Karl Emil Franzos, Judith Trachtenberg, 1891; Ludwig Jacobowski, Werther der Jude, 1892).

Im zweiten Teil des Buchs konzentriert sich Gollance dann auf vier "Bühnen" des Tanzens: Die Taverne, der Ballsaal, die Hochzeit und die Tanzhalle. Sie fragt, wie die jeweiligen Orte und Gelegenheiten des Tanzens auch soziale Begegnungen verschieden geprägt haben, und sie arbeitet deren Spezifika heraus. Die Taverne skizziert Gollance als einen ruralen, "liminal space" (S. 66), an dem sich Gruppen verschiedener sozialer Herkunft trafen, miteinander tranken und tanzten; wobei die Zusammensetzung der Gäste und der gemeinsame Alkoholkonsum als moralisch fragwürdig galten und so insbesondere jüdische Besitzer und Besucher*innen von Tavernen in Verruf geraten konnten. Zugleich berichten die ausgewerteten Erzählungen von transgressiven Fantasien des Aus- und Aufbruchs, die gerade dem liminalen Ort der Taverne entsprangen.

Der Ballsaal – als zweite "Bühne" des Tanzens – kontrastiert die Taverne in mehrerlei Hinsicht. Er verlangte nach Zugangsbeschränkungen und sozialer Etikette und war dadurch nicht allen, sondern nur einigen wenigen, elitären Kreisen vorbehalten, die ihre Bälle zudem nach Konfessionen getrennt ausrichteten. Gerade, da der Ballsaal Klassen, Hierarchien und andere soziale Herkünfte strikt formalisierte, wurden hier die Grenzen jüdischer Akkulturation besonders offenbar. Sieht Gollance zahlreiche tragische Liebesgeschichten im Ballsaal verortet, skizziert sie für den dritten Ort – die Hochzeit – insbesondere familiäre Zwänge und zeremonielle Regeln, die in den Erzählungen rund um Hochzeitstänze zu Tage treten. Tanz fand hier unter den Augen der Gemeindeautoritäten und im Kreis der Familie statt. Er wird zum Motiv arrangierter Ehen und sozialer Kontrolle und steht so im Gegensatz zum karnevalesken Purim- oder alkoholinduzierten Tavernentanz.

Während auf Hochzeiten eine traditionelle Ordnung soziale Struktur vorgibt, erscheinen diese Strukturen in der Tanzhalle in-existent. Die Tanzhalle – als vierte "Bühne" – steht insofern für die urbane Moderne, in der sich eine kommerzielle Freizeit- und Massenkultur ausgebildet hat, die nicht nur als reizvoll, sondern auch als überwältigend und fragmentierend erlebt wird. Mit ihren Untersuchungen zur Tanzhalle landet Gollance schließlich im 20. Jahrhundert und in der jüdischen Diaspora in den USA, wo mittels Tanz etwa europäisch-amerikanische Migration, kapitalistische Logiken und ein Wertewandel auf körperlicher Ebene ausgetragen werden.

Die Folgerungen, die Gollance in ihrer Studie zieht, speisen sich dabei durchwegs aus reichhaltigen, wie plastisch vorgetragenen Quellenstudien. Die Arbeit It Could Lead to Dancing ist so in mehrerlei Hinsicht Lektüregewinn und -genuss: sie berichtet von zahlreichen, populären Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts und sie tut dies selbst auf ansprechend erzählerische Weise. Dicht an den Szenen, Situationen und Episoden populärer Literatur schält Gollance ihr Argument heraus, demnach Tanz – insbesondere mixed-sex Gesellschaftstanz – soziale Umwälzungen und deren Grenzen markiert und artikuliert. Tanz erscheint so als Seismograph und Methode, um Normen und Friktionen von Geschlecht und Klasse zu beforschen. Dass diese methodischen Grundlagen, die Gollance in ihrer Studie für die Moderne auf Basis von Textanalysen vollzieht, auch für vielfältige Materialien des 21. Jahrhunderts weiter produktiv sein können, zeigt schließlich der Epilog. Er skizziert ausblickhaft Materialien auch jenseits von Literatur – etwa den Filmklassiker Dirty Dancing (1987), der anhand der Liebesgeschichte von Baby und Johnny den Topos mixed-sex dancing weiterführt und dabei ebenso Transgressionen zwischen jüdischer und christlicher, bürgerlicher und working-class Herkunft im Tanzsaal ausagiert.

Gerade dieser Ausblick verdeutlicht, wie interdisziplinär anschlussfähig die Arbeit ist. Als Literaturwissenschaftlerin wählt Gollance die Textanalyse, gelangt damit aber zu Erkenntnissen, die über den Text hinaus und in Alltags-, Körper- und Ideengeschichte der Moderne hinein verweisen. Das ist anregend weiter über die Konnexe von Literaturwissenschaft, Jüdischer Geschichte und Tanz- wie Theatergeschichte nachzudenken. Tanz – auch das zeigt die Arbeit – eröffnet Möglichkeiten, persönliche Beziehungen in den Fokus zu rücken, alltägliche Praktiken als politisch und sozial bedeutsam zu beforschen oder auch die Geschichte von Emotion und Attraktion in der Moderne zu perspektivieren. Denn, Tanzen – so schickt Gollance ihrer Studie voraus – "increases the dramatic stakes" (S. 10); es bringt Emotionen und Relationen hervor, die insbesondere in historischen Materialien nicht ohne weiteres sichtbar werden. Dem aus jüdischer Perspektive zu neuer Sichtbarkeit zu verhelfen, ist ein großes Verdienst der Studie.

Autor/innen-Biografie

Theresa Eisele

Universitätsassistentin (Postdoc) am tfm der Universität Wien. Zuvor war sie am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin (Marietta-Blau-Stipendium), als Forschungsstipendiatin bei der Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf sowie am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur tätig. Forschungsschwerpunkte in der kulturwissenschaftlich und historisch informierten Theaterforschung; Arbeiten zur Theatergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zur historischen Anthropologie und jüdischen Geschichte.

Publikationen:

– "Josephine Baker, Vienna, and the Jews. The Entangled Theater History of African American and Jewish Relations". In: Journal of Austrian Studies 55 (Winter 2022), H. 4, S. 25-47. DOI: 10.1353/oas.2022.0064

– "Judith I. fotografieren. Elsie Altmann im Atelier von Madame d’Ora, 1922". In: Lotte Schüßler/Friederike Oberkrome (Hg.), Arbeiten zwischen Medien und Künsten. Feministische Perspektiven auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berlin 2023, S. 125-150.

Szenen der Wiener Moderne. Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen. Mit einem Vorwort von Yfaat Weiss (toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, Bd. 14). Göttingen 2021.

– zus. mit Stefan Hofmann: "'Natural Born Actors' on the Screen: Das alte Gesetz (1923) and the Theatricality of the Modern Jewish Experience". In: Sarah Roos/Regina Randhofer (Hg.), Armenian and Jewish Experience between Expulsion and Destruction. Oldenbourg 2022, S. 131-154.

Cover: It could lead to dancing

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Veröffentlicht

2023-05-10

Ausgabe

Rubrik

Theater