Gernot Böhme: Leib. Die Natur, die wir selbst sind.

Berlin: Suhrkamp 2019. ISBN: 978-3-518-29870-1. 196 S., Preis: € 18,50.

Autor/innen

  • Theresa Eisele

Abstract

Bereits im Titel der Publikation schickt Gernot Böhme die zentrale Arbeitsthese seines Buchs voraus: Leib. Die Natur, die wir selbst sind. Böhme, seit den 1980er Jahren ausgewiesener "Leibphilosoph", bezweckt mit dieser Definition nichts Geringeres, als die bisherige Leibphilosophie sowie den gegenwärtigen Diskurs über Natur zu korrigieren oder zumindest zu ergänzen. Denn, Leib als Natur des Menschen zu begreifen, sei nicht nur folgenreich für den Umgang des Menschen mit sich selbst qua Naturerfahrung, es ändere auch den Diskurs über Natur insofern, als dass diese nicht als rein äußerlich begriffen, sondern "quasi von innen, nämlich in unserer Selbsterfahrung" (S. 9) kennengelernt werden könne. Indem Böhme beide Diskurse über die menschliche und die äußere Natur zusammenführt, zielt er auf eine neue Praxis des Umgangs, "sowohl mit uns selbst als auch mit der äußeren Natur" (S. 21) – wobei in beiden Fällen Natur eine Aufgabe sei, die entwickelt und praktisch eingeübt werden müsse.

Gernot Böhme schließt so an frühere Arbeiten an, in denen er Leib philosophisch ergründet und dabei Philosophie als Lebensform argumentiert, die nicht nur theoretisch gedacht, sondern auch konkret vollzogen werden könne. Als Teil einer praktischen Ethik können etwa auch vorherige Schriften wie Leibsein als Aufgabe (2003) und Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1985) gelesen werden. Hier nun versammelt Böhme einzelne Artikel zu Leib, Natur, Technisierung oder Atmosphären, die er zwischen 2003 und 2018 bereits in Sammelbänden und Journalen veröffentlicht hat und die er nun mit aktuellen Texten zu einer Argumentation zusammenschließt. So ist der Grundtenor des Buchs nicht neu; die einzelnen Kapitel lassen sich auch als lose Essays zur Einführung in Böhmes Denken sowie zur weiteren Vertiefung lesen. In drei Kapiteln ("Einführung", "Ethische Konsequenzen", "Ästhetische Konsequenzen") fügen sie sich zu einem größeren argumentativen Bogen, der sich dank Böhmes sprachlicher Klarheit gut erschließt. Seine philosophischen Standpunkte illustriert er stets an konkreten alltagsweltlichen Beispielen.

In der "Einführung" erläutert Böhme seinen Leib-, Körper- wie Naturbegriff im Verhältnis zum Selbst wie zum Raum und am Beispiel der Liebe. Er konstatiert, Menschen verstünden sich gegenwärtig mehr über ein Körper- denn ein Leibbewusstsein. Das Interesse an der eigenen Natur werde dominiert von einem naturwissenschaftlich-medizinischen Verständnis des Körpers, dem "Blick des Anderen" (S. 42), dem Spiegel oder der Idee von Fitness, während ein Bewusstsein für den Leib, dumpf und unterschwellig vorhanden, erst aufgespürt und entwickelt werden müsse. Dementsprechend scheidet Böhme Körper als "Natur des Menschen in Fremderfahrung" von Leib als "Natur des Menschen in Selbsterfahrung" (S. 41). Seinen Naturbegriff stellt Böhme dabei in die Tradition Aristoteles', der sich wiederum auf den Sophisten Antiphon beruft und Natur als das, "was von selbst da ist", "was uns Menschen gegeben ist" (S. 31), darlegt. Indem er Gegebenes (Natur) und Gemachtes kontrastiert, entwickelt Böhme Natur als Gegensatz von Technik, Kultur und Zivilisation. Dem Leib nähert er sich über Konzepte von René Descartes, Edmund Husserl und Hermann Schmitz, um daran schließlich den eigenen Leibbegriff zu schärfen. Während Böhme am kartesischen Körper als res extensa die Objektivierung des menschlichen Körpers nach naturwissenschaftlichen Paradigmen, seine "entzauberte Vergegenständlichung" (S. 24) kritisiert, kann er an Schmitz' Definition besser anschließen. Dieser begreift Leib als leibliches Spüren, das einem in einem "absoluten Hier" (S. 28) widerfahre.

Daran anknüpfend definiert auch Böhme Leib als ein "Sich-Spüren" (S. 33), als etwas, das uns als zweierlei Selbsterfahrung gegeben sei – als Erfahrung des Selbst und als Erfahrung, die man selbst macht. Diese Erfahrung werde zur Naturerfahrung, wenn sie uns überfalle oder "fremdartig berühre" (S. 33); womit Böhme sein zentrales Anliegen, nämlich Leib als "Natur, die wir selbst sind" zu denken, in seine Begriffsbestimmung hineingeholt hat. Leib als Natur sei dem Menschen vor jeder Reflexion gegeben. Es sei das Fremde im Selbst, das einem überraschend, unheimlich oder fordernd entgegentrete und dennoch zugehörig sei. Man spüre jene Fremdheit im Schmerz, beim Trinken oder im Atmen, wenn die Atmung nach langem Ausatmen "von selbst" (S. 13) erneut einsetze. Böhme fordert, die von ihm herausgearbeitete Spannung zwischen Natur und Selbst aufzulösen und im Leibsein das "eigene Natursein" (S. 38) zuzulassen. Damit weist Böhmes Definition einerseits in Richtung "einer Ethik leiblicher Existenz" (S. 30), sie hat andererseits aber – folgt man der Struktur der Publikation – ethische und ästhetische Konsequenzen.

Im zweiten Kapitel seiner Publikation buchstabiert Böhme die "Ethischen Konsequenzen" seines Leibbegriffs aus, wobei er die Medizinethik in den Blick nimmt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Technik uns auf den Leib rücke, in diesen eindringe und als Dispositiv unser Verhältnis zum Leibsein beeinflusse, fordert Böhme eine (leibliche) Selbstkultivierung. Ein Patient, der etwa mit invasiver Technisierung konfrontiert sei, müsse in dieser Kultivierung unterstützt werden, er müsse "im eigenen Leibe zu Hause sein" (S. 78) und über ein "existenzielles Wissen" (S. 88) um sich und seinen Leib verfügen. Nur so könne er mündig eine Therapieentscheidung mittragen und dabei eine leibliche Perspektive einbringen. Für Entscheidungen im Fall von Organspenden oder Transplantationen – Böhme führt hier die Herztransplantation des Philosophen Jean-Luc Nancy an – sei beispielsweise wesentlich, ob der Patient seine "Natur als kartesisches Körperding"(S. 88) oder aber als Leib begreife. Im Lauf des Kapitels tauchen diese Forderungen nach leiblicher Mündigkeit und einem wissenden Patienten immer wieder auf, ebenso umreißt Böhme sein Leib- und Naturkonzept an verschiedenen Stellen. Während letzteres zum vertiefenden Verständnis der Begrifflichkeiten wie des Publikationsbogens beiträgt, stören die medizinethischen Wiederholungen den Lesefluss eher. Hier wird deutlich, dass das Kapitel mehrheitlich von bereits erschienenen Texten getragen wird, die zunächst nicht zusammenhängend konzipiert waren.

Im dritten und letzten Kapitel entfaltet Gernot Böhme die "Ästhetischen Konsequenzen", die sich aus einer Naturerfahrung als Leiberfahrung ergeben, schlüssig und anhand von konkreten Beispielen. Ausgehend von Goethes Naturwissenschaft, vornehmlich der Farbenlehre und Meteorologie, verweist er auf die leiblich-sinnliche Erfahrbarkeit von Natur, die auch Goethe im Blick gehabt habe. Böhme grenzt sich hier von seinem eigenen Lehrer, dem Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker ab, der im Nachwort zu den Naturwissenschaftlichen Schriften der Hamburger Goethe-Ausgabe Positionen der Farbenlehre als irrig bezeichnet hatte. Im Unterschied dazu historisiert Böhme Goethes Naturwissenschaft als Ausdruck eines neuzeitlichen Naturverständnisses, um sie im historischen Kontext verstehbar zu machen und für die Gegenwart zu rehabilitieren: Denn das Naturverständnis Goethes strebe nach sinnlicher Erkenntnis einer nicht-objektivierbaren Wirklichkeit und sei damit nicht nach modernen naturwissenschaftlichen Maßstäben abzuwerten, sondern ermögliche vielmehr, "Erscheinungen der Natur" (S. 123) jenseits der Ratio leiblich zu erfahren; – hier wie an anderen Stellen macht Böhme explizit, dass Leib, Natur und die an sie geknüpfte Erfahrung weder anthropologisch invariant noch historisch konstant sind; eine historisierende Perspektive, die die Publikation noch stärker durchziehen dürfte.

Anschließend an Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetikverständnis als Theorie sinnlicher Erkenntnis (Aesthetica, 1750/58) und abermals in Rekurs auf Hermann Schmitz entwickelt Böhme eine Umweltästhetik bzw. eine ökologische Ästhetik, die menschliches Befinden in der Umwelt als leibliches "In-Sein" und damit die subjektive Rezeption von Natur betont. Wolken werden so zu Trägern und Erzeugern einer Witterungsstimmung, Wetter auch in "affektiver Betroffenheit" (S. 152) wahrgenommen und mit Gefühlsvokabeln attribuiert ("heiterer Morgen", "düsterer Tag", S. 141). Töne, Stimmen und Geräusche sind Teil von Atmosphären, die emotional aufgeladen sind und sich – teilweise mit dem Hörenden – in den Raum ergießen können.

Gernot Böhme plädiert also letztlich dafür, eine subjektive, leibliche Perspektive auf die (Um-)welt einzuziehen und Kunstwerke durch die leibliche Anwesenheit umfänglich zu erfahren. Umso bedauerlicher, dass Böhme seine ökologische Ästhetik anhand von Malerei, Skulptur und Klanginstallationen exemplifiziert, im Bereich von Theater als Kunst aber beim Bühnenbild und Dramentext haltmacht. Passiert Theater in seiner Spezifik doch gerade dann, wenn Spielende und Zusehende (oder mit Böhme: Erfahrende/Rezipierende) leiblich präsent sind. Diese leiblichen Ko-Präsenz einzubeziehen, wäre ebenso lohnenswert, wie den Theaterraum mit Böhmes Umweltästhetik als leiblichen Raum zu denken. Seine These, dass leibliches Spüren etwa durch Gegenstände in die Weite gedehnt werde, könnte für theateranthropologische Forschungen zu Maskentheater fruchtbar gemacht werden. Dass Leiblichkeit in Theatertexten wiederum immer wieder zum Thema wird, verdeutlicht Böhme aufschlussreich anhand von Mozarts Zauberflöte, Dramentexten von Goethe oder Büchners Woyzeck, dessen Titelfigur das Aufdrängen des Leibs beklagt: "Aber Doktor, wenn einem die Natur kommt" (S. 35). Diese Naturerfahrung – am und durch den eigenen Leib – ins Spiel zu bringen und damit die Perspektive jenseits der Definition des Menschen als animal rationale, der sich qua seiner Vernunft heraushebt, zu verschieben, ist das große Verdienst der Publikation.

Autor/innen-Biografie

Theresa Eisele

Studium der Theaterwissenschaft sowie der Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Madrid. Seit Juni 2016 Universitätsassistentin (Prae Doc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien mit dem Promotionsprojekt "Von Theater- und Gesellschaftsvorstellungen: Theatralität und Jüdisch-Sein in der Wiener Moderne". Von 2014–2016 wissenschaftliche Hilfskraft am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur und redaktionelle Tätigkeiten für das Projekt "Europäische Traditionen – Enzyklopädie jüdischer Kulturen" der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (SAW). Lehrtätigkeit am Institut für Theaterwissenschaft Leipzig. Studienbegleitend journalistische Ausbildung im Rahmen des Dr.-Hans-Kapfinger-Stipendiums.

Publikationen:

–, "Zersetztes Zelluloid, virulente Vorstellungen: Die Restaurierung von 'Die Stadt ohne Juden'". In: Jüdische Geschichte und Kultur. Magazin des Dubnow-Instituts 2, 48–51.

–, "Gottes Mechaniker. Die Puppen des Francisco Sanz Baldovi". In: double. Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater 33/4, April 2016, S. 16f.

–, "Unerwünschte Uraufführungen: Das 'Deutsche Miserere' und die 'Jüdische Chronik' 1966 in Leipzig". In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 14, 2015, S. 195–217.

–, "Rhapsody in Blue". In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der sächsischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 5: Pr–Sy. Hg. v. Dan Diner. Stuttgart 2014, S. 209–215.

–, "Sterbende Stiere; oder von der Kunst des aufgeklärten Todes". In: Tierstudien 5, April 2014, S. 103–116.

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Veröffentlicht

2019-11-19

Ausgabe

Rubrik

Theater