Max Czollek: Desintegriert Euch! \\\\ ders.: Gegenwartsbewältigung. \\\\ ders.: Versöhnungstheater.

München: Hanser 2018. ISBN: 978-3-446-26027-6. 208 Seiten, 18,00 €. \\\\ München: Hanser 2020. ISBN: 978-3-446-26772-5. 208 Seiten, 20,00 €. \\\\ München: Hanser 2023. ISBN: 978-3-446-27609-3. 176 Seiten, 22,00 €.

Autor/innen

  • Theresa Eisele

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-02

Abstract

What does it mean to take seriously […] the thought that cultural politics and questions of culture, of discourse, and of metaphor are absolutely deadly political questions? (Hall [1998] 2021, S. 330)

Die Frage, die Stuart Hall 1998 aufwarf, erhält gegenwärtig in Max Czolleks Essay-Trilogie eine Antwort. Hall fragte danach, was es bedeute, den politischen Gehalt von Kultur, Diskurs und Metapher ernst zu nehmen; und Czollek antwortet mit einer dreiteiligen Ideologie- und Repräsentationskritik, die die Kultur- und Gedenkpolitik Deutschlands, ihre Diskurse, Symbole und Begriffe befragt, sie also – mit Hall – "ernst nimmt" und ihre politische Brisanz für die Gegenwart herausstreicht. Über fünf Jahre hinweg publizierte Czollek seine Kritik in drei Teilen, die hier gesammelt diskutiert wird, da sie – erstens – eng aufeinander bezogen und – zweitens – theater- wie medienwissenschaftlichen Konzepten verpflichtet ist.

Den Startpunkt von Czolleks Beschäftigung mit der deutschen Gegenwart, ihrer Erinnerungs- und Repräsentationspolitik setzte 2016 der sogenannte Desintegrationskongress, den Czollek mit verantwortete und dessen Anliegen er zwei Jahre später in seinem ersten Essay Desintegriert Euch! (2018) veröffentlichte. Mit Desintegriert Euch! wendet sich Czollek als "Lyriker, Berliner und Jude", als "Politikwissenschaftler, Schriftsteller und Intellektueller" an eine deutsche Öffentlichkeit. (Desintegriert Euch!, S. 11 und 16) Er problematisiert die einseitige Forderung nach Integration, die Normalisierung eines positiv besetzten deutschen Nationalismus nach dem Holocaust und speziell die Funktion, die der jüdischen Bevölkerung bei dieser Normalisierung zukommt. Die Erinnerungs- und Gedenkkultur an den Holocaust ziele spätestens seit den 1980ern auf die "Neuerfindung eines positiven deutschen Selbstverständnisses" (Gegenwartsbewältigung, S. 16), das auf der symbolischen Aussöhnung mit der Vergangenheit beruhe, dabei aber weder an Reparationen oder rechtlichen Konsequenzen, noch an den vielfältigen, lebendigen jüdischen Positionen in Deutschland interessiert sei: "diese Gesellschaft erhebt seit der Wiedervereinigung zunehmend einen Anspruch auf Normalisierung. Alles wieder gut?", fragt Czollek rhetorisch, um festzuhalten: "Es gibt wenig in diesem Land, das ich für normal halte". (Desintegriert Euch!, S. 7)

Diese distanzierende Haltung, der verfremdende Blick auf die Behauptung "deutscher Normalität" nach dem Holocaust prägt in der Folge Czolleks Analyse. In kritischer Distanznahme widmet er sich den historisch gewachsenen Praktiken und Diskursen deutscher Zeitgeschichte und Gegenwart, allen voran dem "Gedächtnistheater", das Czollek für Desintegriert Euch! eingehend in Anspruch nimmt. Das Konzept des Gedächtnistheaters entlehnt Czollek beim Soziologen Y. Michal Bodemann, der damit in den 1990er Jahren eine allzu eingeübte Erinnerungskultur an die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs beschrieb. Bodemann analysierte die Gedenkfeiern im November 1988, indem er sie als Theaterinszenierung mit Bühne, Publikum und Schauspieler*innen wahrnahm; wobei der jüdischen Bevölkerung die Rolle des "still leidende[n] Opfer[s]" (Bodemann 1996, S. 115) zukomme, während sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft als gesühnt inszeniere.

Czollek greift das Konzept auf und spitzt es für die 2010er Jahre zu. Noch immer seien Jüdinnen und Juden "Figuren auf der Bühne des deutschen Gedächtnistheaters" (Desintegriert Euch!, S. 8). Ihre Rolle folge einem Skript, an dessen Ende die "Wiedergutwerdung der Deutschen" (Eike Geisel) stehe. Jüdinnen und Juden komme dabei nur eine "symbolische Bedeutung als Vertreter*innen der Vernichteten" (Desintegriert Euch!, S. 23) zu. Hinter dieser normativen Rollenerwartung verschwinden aber, so Czollek, Personen und ihre vielfältigen Anliegen. Die Inszenierung der Mehrheitsgesellschaft verhindere eine "differenzierte Sichtbarkeit" jüdischer Minderheiten, denen Czollek in Umkehr des Integrations-Normativs zuruft: Desintegriert Euch!

Desintegriert Euch! wurde zu einem Bestseller und ist mittlerweile auch als englische Übersetzung erhältlich. 2020 folgte der Titel Gegenwartsbewältigung, der die Forderung nach Desintegration weiterträgt und die Kritik an einer "deutschen Leitkultur" verdichtet. Dabei richtet Czollek seinen Blick auf die Phantasmagorie des "christlich-jüdischen Abendlandes" und auf das Konstrukt einer homogenen "deutschen Gesellschaft", einem "Wir", dem in Aussagen von Politiker*innen notwendigerweise "die Anderen" gegenüberstehen müssen. Der nun erschienene dritte Essay Versöhnungstheater widmet sich wiederum der Erinnerungs- und Kulturpolitik Deutschlands und konkret dem zunehmend artikulierten Wunsch nach "Versöhnung" mit der nationalsozialistischen Geschichte. Die Versöhnung kennzeichne sich in diesem Fall aber dadurch, dass ihr das Gegenüber fehle, "etwa, weil man es ermordet hat oder weil es Forderungen nach echter Aufarbeitung und Entschädigung stellt" (Versöhnungstheater, S. 22). Darum inszeniere man Versöhnung mit einem fiktionalen Gegenüber und anhand von symbolischen Gesten – also ein "Versöhnungstheater", das "Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung" (Versöhnungstheater, S. 14) vorantreibe.

Wie bereits in den zwei vorangegangenen Schriften trägt Czollek seine Kritik popkulturell versiert und streitbar vor. Seinen Thesen stellt er Beispiele an die Seite, die sein Unbehagen mit den Diskursen, Handlungen und Symboliken einer deutschen Mehrheitsgesellschaft in einprägsame Vergleiche und lebensweltliche Kontexte übersetzen. So pointiert Czollek die Dynamik einseitigen Versöhnungsgebarens – etwa den Dank, den Frank Walter Steinmeier 2020 in Yad Vashem für die "ausgestreckte Hand der Überlebenden" geäußert hatte – mit dem Verleih einer Bohrmaschine: "Stellen Sie sich vor, ich wäre Ihr Nachbar. Ich klopfe an der Tür und frage, ob Sie mir eine Bohrmaschine leihen können. Sie verschwinden kurz im Hobbywerkraum, kommen mit dem Gerät zurück, und ich rufe: Tausend Dank für das schöne Geschenk! Fänden Sie das lustig?" (Versöhnungstheater, S. 17). Damit wird auch deutlich, worauf Czolleks Kritik des "Versöhnungstheaters" zielt: auf die "Entkoppelung symbolischer Handlungen und politischer Realität"; auf einseitige Versöhnungsbehauptungen, "ohne dass der anderen Seite überhaupt noch die Zeit bleibt, ihre Perspektive zu äußern." (Versöhnungstheater, S. 25 und 30).

Mit dem Kniefall Willy Brandts 1970 im Warschauer Ghetto habe, so beobachtet Czollek, die deutsche Gesellschaft ein neues Verhältnis zur eigenen gewaltvollen Vergangenheit eingenommen. Statt Verantwortung zu übernehmen – die Strafverfolgung zu intensivieren oder politische Konsequenzen für Täter*innen zu ziehen – sei die Symbolebene in Form von Gedenkstunden, Denkmälern und Reden fokussiert worden. Als "Ersatzhandlungen" hätten sie es erlaubt, die deutsche Identität post 1945 zu entlasten, ohne den Preis dafür zu zahlen (Versöhnungstheater, S. 44). Parallel klaffe auch die offizielle Repräsentation von Jüdinnen und Juden mit der jüdischen Lebendigkeit innerhalb einer postmigrantischen Gesellschaft auseinander.

Czolleks Analyse beansprucht so Theoreme der Theater- und Medienwissenschaft und überführt sie in gesellschaftspolitische Intervention. Ohne die Theoreme im Detail auseinanderzudividieren, zeigt er vor allem ihr politisches Potential und die Möglichkeiten ihrer Anwendung. Allen voran prüft Czollek Repräsentation als gesellschaftspolitische Kraft, fragt nach Positionalität und Agency von Repräsentation (wer spricht mit welcher Wirkmacht für wen?) und befragt Gehalt wie Konsequenz symbolischer Handlungen und politischer Inszenierungen. Nicht zuletzt bedient er Theatervokabular zur Adressierung gesellschaftlicher Dynamiken. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht ist gerade dieser prominent gesetzte Versuch, über Theater Gesellschaft zu (be-)greifen von theoretischem und historischem Interesse. Er zeigt, dass und wie mit theaterwissenschaftlichen Konzeptionen Gesellschaftskritik gelingen kann.

Zugleich liest sich Czolleks Trilogie als Produkt aktueller Debatten um die Verfasstheit deutscher Gesellschaft, ihrer Erinnerungs- und Teilhabe-Kultur. Parallel zu den Versuchen, Kultur zu hierarchisieren und Gesellschaft zu homogenisieren, mehrten sich Plädoyers dafür, Gesellschaft als dissonante Vielheit zu begreifen und hegemoniale Strukturen aus jüdischer Perspektive als Goygenwart (Debora Antmann) oder Goynormativität (Judith Coffey/Vivien Laumann; goy pejorativ für nicht-jüdisch, TE) zu problematisieren. Czolleks Schaffen ist Teil dieser Plädoyers. Seine Schriften üben Ideologiekritik, weisen aber auch Wege zu einer intersektionalen Vielfalt im öffentlichen Diskurs. Die Desintegration und Subversion – wiederum mittels künstlerischer bzw. theatraler Praktiken – gehören dazu; und vor allem die Distanznahme zu hegemonialen Imperativen. Was bedeutet es, Kulturpolitik politisch ernst zu nehmen, fragt Stuart Hall 1998 für den US-amerikanischen Kontext. Und Czollek antwortet in Bezug auf deutsche Kulturpolitik: es bedeutet, ihren Imperativen, Gesten und Symboliken so misstrauisch zu begegnen, "wie ein[em] Liebesgeständnis auf Ecstasy" (Gegenwartsbewältigung, S. 20).

Quellen:

Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg: Rotbuch 1996.

Hall, Stuart: "Subjects in History: Making Diasporic Identities" [1998]. In: Selected Writings on Race and Difference. Hg. v. Paul Gilroy/Ruth Wilson Gilmore, Durham/London: Duke University Press 2021, S. 329–338.

Autor/innen-Biografie

Theresa Eisele

Theresa Eisele ist Universitätsassistentin (Postdoc) am tfm der Universität Wien. Zuvor war sie am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin (Marietta-Blau-Stipendium), als Forschungsstipendiatin bei der Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf sowie am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur tätig. Forschungsschwerpunkte in der kulturwissenschaftlichen und historischen Theaterforschung; Arbeiten zur Theatergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zur historischen Anthropologie und jüdischen Geschichte.

Publikationen (aktuell):

– "Josephine Baker, Vienna, and the Jews. The Entangled Theater History of African American and Jewish Relations". In: Journal of Austrian Studies 55/4, Winter 2022, S. 25–47. DOI: 10.1353/oas.2022.0064

– "Judith I. fotografieren. Elsie Altmann im Atelier von Madame d’Ora, 1922". In: Arbeiten zwischen Medien und Künsten. Feministische Perspektiven auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Lotte Schüßler/Friederike Oberkrome, Berlin 2023, S. 125–150.

– zus. mit Stefan Hofmann: "'Natural Born Actors' on the Screen: Das alte Gesetz (1923) and the Theatricality of the Modern Jewish Experience". In: Armenian and Jewish Experience between Expulsion and Destruction. Hg. v. Sarah Roos/Regina Randhofer, Oldenbourg 2022, S. 131–154.

Downloads

Veröffentlicht

2023-11-16

Ausgabe

Rubrik

Theater